In unseren Artikeln haben wir uns noch nicht direkt mit der Frage nach dem eigentlichen Nutzen von Ethik auseinandergesetzt. Bisher haben wir Ethik immer mit Bezug zu einem bestimmten Thema gedacht, wie z.B. in einigen unserer populärsten Artikel „Die vier Prinzipien ethischen Handelns in der Medizin“, „Was ist ein ethisches Dilemma?“, oder „Ethisches Handeln im Alltag – wie geht das?“, und vielen weiteren beliebten Artikeln auf unserer Webseite zum Thema Ethik. Das wollen wir in diesem Artikel nun nachholen und so einen Denkanstoß zur Beantwortung dieser Frage geben.
Was bedeutet Ethik?
Zum einen handelt es sich dabei ganz nüchtern und abstrakt um moralische Prinzipien, Normen und Werte, zum anderen konkret, um die Untersuchung, was als gutes oder richtiges Handeln gelten kann und dann noch konkreter um die Anwendung, also das Praktizieren solch guten oder richtigen Verhaltens im Alltag. Ethik analysiert also moralische Entscheidungen, deren Begründung und Konsequenzen. Bei der Anwendung von Ethik, die man als richtig und gut ansieht (hierzu mehr zu diesem Thema finden Sie in unserem Artikel über die „Goldene Regel“), kommt man nicht an dem Begriff der Selbstkontrolle vorbei. Dies deshalb, weil unsere ersten, instinkthaften Impulse nicht unbedingt immer mit der Ethik in Einklang stehen werden und uns so ein ständiges Kontrollieren unserer Impulse abverlangen. Die Frage nach dem Nutzen von Ethik wollen wir im Nachfolgenden unter Zuhilfenahme der Forschungen zu dem Thema Selbstkontrolle von dem Sozialpsychologen Roy Baumeister[1] beantworten.
Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle als menschliche „Super-Power“
Schauen wir uns nun an, was es mit der menschlichen Fähigkeit zur bewussten Selbstkontrolle und deren Beziehung zur Ethik auf sich hat.
Die Fähigkeit Instinkte bewusst zu kontrollieren ist nach Baumeister für den Erfolg des „Kulturtieres“ Mensch von entscheidender Bedeutung: Die meisten Experten zu diesem Thema sind sich einig, dass sich Menschen weitaus stärker selbst regulieren können als andere „Tiere“. Menschen sind durch die bewusste Anwendung von Selbstkontrolle in der Lage den Verlauf dessen, was sie gerade tun, abrupt zu stoppen, was anderen Tieren so gut wie unmöglich ist. Mit anderen Worten: Menschen können Reaktionen überwinden, die bereits im Gange sind. Selbstkontrolle ermöglicht es uns, unsere inneren Zustände, Reaktionen und Verhaltensweisen zu verändern. Dadurch verleiht sie uns ein außergewöhnliches Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: unsere Super-Power. Diese Fähigkeit erklärt nach Baumeister zum großen Teil die unendliche Vielfalt des menschlichen Verhaltens im Vergleich zum stereotypen und vorhersehbaren Verhalten der meisten anderen Tiere.
Das Einhalten von Regeln ist dabei ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kultur und stellt einen grundlegenden Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Verhalten dar. Baumeister stellt fest, dass Regeln existieren, um Menschen davon abzuhalten, das zu tun, was sie gerne tun möchten, ohne an die Konsequenzen, oder an die Rechte anderer oder der Gesellschaft im Ganzen zu denken; und das Befolgen dieser Regeln (insbesondere von Ethik, Moral und Gesetz) erfordert, dass der Mensch seine Impulse kontrolliert. Soweit wir in der Lage sind, dem systematischen Handeln nach dem ersten Impuls, der in einer bestimmten Situation in uns auftaucht, zu widerstehen, sind wir in der Lage, unser Verhalten mehr oder weniger mit Ethik in Einklang zu bringen. Dabei ist der Mensch nach Baumeister in der Lage, einen Teil seiner psychischen Willenskraft zu nutzen, um sich bewusst zu verändern, indem er seine instinktiven Reaktionen neutralisiert und stattdessen ethischen Prinzipien folgt. Es besteht nach Baumeister kein Zweifel daran, dass es uns allen besser gehen würde, wenn wir mehr Selbstkontrolle hätten. Dabei teilt Baumeister die Fähigkeit zur Selbstkontrolle in 4 Hauptbereiche auf: 1) Kontrolle über seine Gedanken, 2) Kontrolle über seine Gefühle, 3) Kontrolle über seine instinktiven Impulse und die Fähigkeit Versuchungen zu widerstehen und 4) Kontrolle über seine Willenskraft und Beharrlichkeit …
Die unterschiedlichen Dimensionen des Nutzens von Ethik
Der Nutzen von Ethik hat eine materielle, aber auch eine spirituelle Dimension.
Kaum jemand wird ernsthaft bezweifeln, dass erfolgreiche Selbstkontrolle ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg im Leben allgemein ist. Das zeigt einem schon die eigene Lebenserfahrung. Menschen, denen es gelingt, ihr eigenes Verhalten wirksam zu regulieren, sind im Allgemeinen erfolgreicher als andere. Sie erzielen in der Regel bessere Ergebnisse in der Schule und am Arbeitsplatz. Sie haben bessere zwischenmenschliche Beziehungen, werden von anderen mehr geschätzt und man vertraut ihnen mehr. Sie haben weniger persönliche Probleme und sind psychisch anpassungsfähiger/resilienter (zu dem Thema Resilienz wollen wir auf unseren Artikel „Resilienzforschung. Welche Geisteshaltung verleiht mir mentale Stärke?“ verweisen). Selbstkontrolle ist nach Baumeister neben Intelligenz eine der besten psychologischen Mehrzweckfähigkeiten. Umgekehrt führt die Unfähigkeit zur Selbstkontrolle zu vielen persönlichen und sozialen Problemen, darunter Sucht und Missbrauch, Kriminalität und Gewalt, schlechte Schulleistungen, Schulden und andere Geldprobleme, Essstörungen, emotionale Überforderung, Bewegungsmangel, etc. Nach Baumeister wurde gerade der Zusammenhang mit Kriminalität besonders gründlich erforscht. Kriminalität ist per Definition ein Verstoß gegen die expliziten Regeln der Kultur – und oft scheinen kriminelle Handlungen auf einen impulsiven Mangel an Selbstkontrolle zurückzuführen zu sein.
Wenn es darum geht, unser Denken und Handeln bewusst einer ethischen Selbstkontrolle zu unterziehen, langfristige Ziele zu verfolgen, anstatt kurzfristigen Gewinnen hinterherzurennen, eine bessere Zukunft aufzubauen oder in der Gegenwart mit anderen auszukommen und zu kooperieren sind die Vorteile auf rein materieller Ebene, wie oben gezeigt, bereits immens.
Für gläubige Menschen, also Menschen, die an die gemeinsamen Grundprinzipien der monotheistischen Offenbarungsreligionen glauben, also vor allem an ein Weiterleben in einem Jenseits, an eine Rechenschaft, dass das Leben im Diesseits den Zweck zum Sähen hat, dessen Ernte für das Jenseits bestimmt ist, hat die bewusste Befolgung von Ethik neben den oben beschriebenen rein materiellen Vorteilen noch eine weitere, spirituelle Ebene. Sie unterziehen ihr Denken und Handeln einer Selbstkontrolle nicht nur aus materiellen Beweggründen, sondern ihre Intention umfasst das Erreichen eines höheren Ziels, jenseits des Lebens im Diesseits. Der große Vorteil dieser Menschen, ist, dass ihre Motivation zur Selbstkontrolle und zur Einhaltung der Ethik nicht nur durch die aufgezeigten Vorteile auf rein materieller Ebene angetrieben wird, sondern zusätzlich durch die Vorteile durch den Glauben an diese zweite, spirituelle Ebene. Das Fundament, auf dem ihre Super-Power Selbstkontrolle fußt, ist somit ungleich stabiler und stürzt nicht so schnell durch einen stärkeren, unethischen Impuls ein. Hierzu gibt es inzwischen auch eine ganze Reihe von Studien, die allesamt sehr anschaulich einen Zusammenhang zwischen Glauben und verbesserter Selbstkontrolle herstellen.[2]
Autoren: Das Ethica Rationalis Redaktionsteam
[1] Roy Baumeister ist ein US-amerikanischer Sozialpsychologe, der für seine Arbeiten u.a. zu den Themen Selbst, Selbstkontrolle, Motivation, Aggression, Bewusstsein und freier Wille bekannt ist. Insbesondere die Feststellungen in seinem bisher leider nur in Englischer Sprache vorliegenden Buch “The Cultural Animal: Human Nature, Meaning, and Social Life, Oxford University Press; 1st Edition (February 10, 2005), ISBN-10: 0195167031, ISBN-13: 978-0195167030) sind in diesen Artikel eingeflossen.
[2] Michael Inzlicht (2009), University of Toronto, “Religion Replenishes Self-Control”;
McCullough & Willoughby (2009), Psychological Bulletin, „Religion, Self-Regulation, and Self-Control: Associations, Explanations, and Implications„;
Baumeister, DeWall, & Vohs (2007), Current Directions in Psychological Science, „Religion, Self-Regulation, and Self-Control: Why God Helps You Exercise Restraint„;
Rounding, Lee, Jacobson, & Ji (2012), Psychological Science, „Religion Replenishes Self-Control“.