Alltagsethik

Die Goldene Regel

Eine „goldene“ Regel? Wenn etwas mit „golden“ assoziiert wird, dann doch deshalb, weil es für uns einen hohen Wert besitzt. Was also ist der Wert dieser Regel? Was bedeutet sie im Kontext ethischen Handelns? Der folgende Beitrag will kurz den Ursprüngen des Begriffs nachgehen, einen Hinweis auf dessen wahre Bedeutung geben und schließlich die konkreten Auswirkungen sowie die unschätzbare Nützlichkeit dieses Grundsatzes der praktischen Ethik erläutern:

Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.

Was sind die Ursprünge der Goldenen Regel?

Eine Spurensuche zu den Wurzeln des Begriffs zeigt, dass ähnliche Grundsätze mit unterschiedlicher Bedeutung bereits vom 7. Jahrhundert v. Chr. an in religiösen und philosophischen Texten aus unterschiedlichen Regionen, wie China, Indien, Persien, Altägypten und Griechenland überliefert sind und daher – was besonders hervorzuheben ist – keine gemeinsame schriftliche Quelle haben können. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass es sich um ein universal gültiges Konzept handelt, das tief im Menschsein verankert ist.

So antwortet bereits Konfuzius (551–479 v. Chr.) in seinen um 200 n. Chr. aufgeschriebenen Analekten einem Schüler auf die Frage, was sittliches Verhalten sei (A. 12,2):

Was du selbst nicht wünschst, das tue auch anderen nicht an. Dann wird es keinen Zorn gegen dich geben.

Im Mahabharata, einer zwischen 400 v. und 400 n. Chr. gewachsenen Schrift des Hinduismus und Brahmanismus, ist der folgende Satz überliefert:

Man soll niemals einem Anderen antun, was man für das eigene Selbst als verletzend betrachtet. Dies, im Kern, ist die Regel aller Rechtschaffenheit.

Auch buddhistische Schriften raten, andere aus einsichtiger Selbstwahrnehmung nicht zu verletzen. Im Samyutta Nikaya aus dem Palikanon lehrt Buddha – ausgehend vom Wunsch jeder Person, nicht sterben zu müssen, für sich selbst Glück zu suchen und Leid zu meiden:

Was für mich eine unliebe und unangenehme Sache ist, das ist auch für den Anderen eine unliebe und unangenehme Sache. Was da für mich eine unliebe und unangenehme Sache ist, wie könnte ich das einem Anderen aufladen?

Im Zoroastrismus zählt die mittelpersische Schrift Shâyast lâ-shâyast („Angemessenes und Unangemessenes“, 650-690 n. Chr.) die rechten und unrechten Taten des Menschen auf. Sie nennt als religiöse Hauptziele unter anderen:

…eins ist somit, anderen alles das nicht anzutun, was einem selbst nicht wohl tut; das zweite ist, voll zu verstehen, was wohlgetan und was nicht wohlgetan ist …

In der Tora, die spätestens 250 v. Chr. abgeschlossen wurde, ist die Regel in Form von konkreten Geboten zum Wohlverhalten gegenüber Anderen, darunter die Gebote der Nächsten- (Leviticus 19:18) und Fremdenliebe enthalten. So in Leviticus 19:34:

Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.

Im Neuen Testament erscheint die positive Regelform als wörtliche Rede Jesu an zwei Stellen. Die erste (Lukas 6,31) folgt dem Gebot der Feindesliebe, die gerade auch denen gelte, die einen hassen. Die zweite, inhaltlich gleichlautende Stelle (Matthäus 7,12) steht im Schlusskapitel der Bergpredigt:

Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!

Im Koran finden sich mehrere Suren, die den Grundsatz der Goldenen Regel aufnehmen, wie etwa Sure 24, 22:

Sie sollen verzeihen und nachlassen. Liebt ihr selbst es nicht, dass Gott euch vergibt? 1

 

Die Goldene Regel in der Moderne

Inwiefern der Grundsatz der Goldenen Regel für unser tägliches Handeln relevant ist, darüber finden wir auch in der heutigen Zeit Schriften und Studien, u.a. bei Ernst Haeckel, Karl Popper und Erich Fromm. Auch in den religiösen und mystischen Schriften des Orients gibt es Beiträge aus der Gegenwart zur Goldenen Regel, die beweisen, dass es sich dabei um ein Menschheits-Ethos handelt und nicht nur um ein Gebot. In den Werken des Mystikers und Philosophen Nur Ali Elahi beispielsweise steht die Goldene Regel ebenfalls im Kern der Betrachtungen und er hat in seinen Forschungen einen wesentlichen Beitrag zur Klärung des Begriffs in der heutigen Gesellschaft geleistet. In einem Kompendium seiner mündlichen Unterweisungen, Asar-ol Haqq (Worte der Wahrheit)2 finden sich hierzu zahlreiche Aussagen. Nur Ali Elahi (1895-1974), auch bekannt als Ostad Elahi3, ist ein moderner Denker, der als Erbe der philosophischen Terminologie und Metaphysik von Mullah Sadra gesehen werden kann. Zugleich ist er Moralphilosoph und sein Gedankengut ist daher eng mit der aristotelischen Tradition der Vervollkommnung von Tugenden verknüpft. Sein Hauptaugenmerk gilt der ‚Quintessenz der Religionen’, das bedeutet, die Konzentration auf die Essenz und das Wesentliche, das alle Religionen miteinander verbindet. In einem Artikel von James Morris, Theologieprofessor am Boston College, wird die Version der Goldenen Regel von Ostad Elahi wie folgt zitiert4:

Whatever you don’t like and don’t want for yourself, don’t wish it for others either. Strive to protect others from suffering harm, in the same way you try to keep harm and injury from yourself. Whatever pleases you and you want for yourself, wish that for others as well: just as you strive for your own benefit, make the same effort for the good of others.

Was macht diese Grundsätze so unschätzbar nützlich?

Die Grundsätze, die in der Goldenen Regel verkörpert sind, stellen keine inhaltliche Norm dar, die angibt, welches Verhalten richtig oder falsch ist. Vielmehr verlangt sie von uns einen Perspektivenwechsel, d.h. wenn man diese Grundsätze tatsächlich praktizieren möchte, kann man nicht umhin, sich bewusst in die Situation des Gegenüber zu versetzen und über dessen Gefühle, Gedanken und Verhalten zu reflektieren – auch zu umschreiben mit dem modernen Begriff der Empathie. Es geht darum – liest man das Zitat von Ostad Elahi genauer –, sich aktiv um das Wohlergehen anderer zu bemühen: Welche Pflichten habe ich meinen Mitmenschen gegenüber? Was bedeutet es, andere vor Schaden zu schützen? Was bedeutet es, sich für andere so einzusetzen, wie man sich für seine eigenen Interessen einsetzt? Was bedeutet es, anderen dieselben Vorteile zu verschaffen, die man selbst in Anspruch nehmen möchte?

Dieses Reflektieren führt dazu, dass wir mehr ethische Eigenverantwortung übernehmen, denn wer sich in die Lage anderer hineinversetzen kann, sollte auch fähig sein, seine eigenen Gefühle, Gedanken und Handlungen zu kontrollieren. Daher ist es notwendig, unser Verhalten fortwährend der Prüfung unserer eigenen, individuellen Vernunft zu unterziehen, Fehlentscheidungen zu analysieren und zu revidieren und im Rahmen dieses Prozesses geistig zu reifen. Die Goldene Regel ist so unschätzbar nützlich, weil sie ein Gebot der angewandten Ethik darstellt, das uns als wichtiger persönlicher Orientierungspunkt dienen kann, das aber gleichzeitig ein universal gültiger Wegweiser für ethisches Verhalten ist – für alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Rasse, Kultur, Erziehung und Religionszugehörigkeit.

Autor: Das Redaktionsteam

Bildnachweis: Fotolia@ Andy Dean


[1.] Auch ist das folgende Wort Mohammeds bekannt: „Keiner von Euch ist ein Gläubiger, solange er nicht das für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst gewünscht hätte.“ (Hadith, Überlieferungen von Mohammed, Sammler: Buchari).

[2.] Elahi, B. (Hrsg.) (1978): Asar ol-Haqq, Bd. 1.

[3.] Siehe hierzu auch: www.ostadelahi.com.

[4.] Elahi, B. (Hrsg.) (1978): Asar ol-Haqq, Bd. 1, Zitat 42; zitiert in Morris, J. (2007): Ostad Elahi on Spirituality in Everyday Life, Public Lecture presented at University of California at Santa Barbara, Department of Religion, S. 3; http://escholarship.bc.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1045&context=james_morris.

In dem genannten Artikel widmet James Morris diesen Abschnitt der Frage „What Ostad Elahi understands by „Religion“. Die Goldene Regel ist demnach nur ein Teil der Pflichten des metaphysischen Menschen und ist eingebettet in mehrere zentrale Punkte: „1) Always have your attention on God and be intimately in communion with God. The right direction of prayer is in our heart […] 2) Whatever you don’t like and don’t want for yourself, don’t wish it for others either. Strive to protect others from suffering harm, in the same way you try to keep harm and injury from yourself. Whatever pleases you and you want for yourself, wish that for others as well: just as you strive for your own benefit, make the same effort for the good of others. 3) Know for what purpose you’ve come into this world, what you must do here, and what will happen to you once you’ve left this world. In summary, this is the essence of what people call Religion.”