AlltagsethikEin ethisches Dilemma

Spaziergang an der Promenade: Ein ethisches Dilemma – Ergebnis der Umfrage

Sie erinnern sich an unsere Fallstudie, die wir am 28. April 2021 veröffentlicht haben? Die Tendenz der Antworten ist recht eindeutig: Über die Hälfte der Teilnehmer (Stand 30.10.2021) sagt, dass sie den Obdachlosen ansprechen würden, um herauszufinden, ob er nur schläft oder ob er Hilfe braucht. Sehr positiv ist auch, dass die Befragten dort, wo sie selbst an ihre Grenzen kommen (z.B. aufgrund fehlender Sprachkenntnisse) nicht zögern würden, andere um Hilfe zu bitten. Dies steht in Einklang mit Forschungsergebnissen, die wir Ihnen im Folgenden gerne näher erläutern möchten. Wenn Sie das genaue Ergebnis nachschauen möchten, gehen Sie auf die betreffende Dilemma-Fallstudie zum Bereich „Antworten“ und klicken Sie auf den Button „Ergebnisse“.

Das Dilemma: Können doch andere die Verantwortung übernehmen!

Immer wieder erscheinen Meldungen, in denen Opfer in Notsituationen keine Hilfe von den umstehenden Menschen erhalten. Was hindert die Menschen daran, in Notsituationen einzugreifen und zu helfen? Eine Hauptursache für dieses Phänomen ist die Diffusion der Verantwortung. Darunter versteht man die Aufteilung der Verantwortung unter mehreren Beobachtern. Das führt häufig zum sozialen Faulenzen, womit der Beobachter darauf zählt, dass andere, die den Vorfall ebenfalls beobachten, schon das Richtige tun werden.[1] Man spricht von sozialer Hemmung, wenn das Verhalten eines Individuums durch die Anwesenheit anderer Personen gehemmt wird und es zu einer Abnahme von Reaktionen kommt.[2] US-Sozialpsychologen begannen Ende der 1960er Jahre nach einem Aufsehen erregenden Mord an Catherine „Kitty“ Genovese, dieses Phänomen wissenschaftlich zu betrachten und zu untersuchen.[3] Es wird seitdem „Genovese-Syndrom“, auch „Bystander-“ oder „Zuschauer-Effekt“ genannt: je mehr Zuschauer einen Notfall beobachten, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen dem Opfer hilft.[4]

Was bedeutet das im Fall von Katharina in Nizza?

Ihr Bewusstsein, dass andere Menschen auf der Promenade ebenfalls anwesend sind und helfen könnten, führt möglicherweise zu einer Diffusion der Verantwortung. Das Dilemma der Verantwortungsdiffusion liegt darin, dass in dem Moment, in dem Katharina auf der Strandpromenade davon ausgeht, dass sich ein anderer Passant um den Obdachlosen kümmern wird, die anderen Passanten nach der gleichen Logik handeln.[5] Als weiterer Hemmungsmechanismus kann der Effekt der pluralistischen Ignoranz hinzukommen. Wenn sich die Menschen auf der Promenade gegenseitig beobachten und sehen, dass sich keiner besorgt zeigt bzw. eingreift, gehen die Beobachter gegenseitig davon aus, dass die Situation des Obdachlosen kein helfendes Eingreifen erfordert und es sich um keine Notsituation handelt.[6] Als weiterer Hemmungsmechanismus kann in Katharinas Fall der Ort angesehen werden, die Großstadt Nizza. Umfassende Feldexperimente[7] in den USA zeigen, dass die Hilfsbereitschaft in dicht besiedelten Gebieten geringer ist als in ländlich geprägten Gegenden. Je größer die Bevölkerungsdichte, desto eher besteht die Wahrscheinlichkeit der Diffusion der Verantwortung.

Die Lösung: Verantwortung will geübt sein!

Es sollte nun verständlicher sein, warum Menschen in Notsituationen nicht eingreifen. Entweder es wird gar nicht erst erkannt, dass es sich um eine Problem- oder Notsituation handelt, da man z.B. unter Zeitdruck unterwegs ist und den Notfall in der Eile nicht wahrnimmt. Oder aber man erkennt die Problemsituation und wird von verschiedenen Mechanismen abgehalten zu helfen. Diffusion der Verantwortung ist jedoch nicht unausweichlich. Wie bei ungünstigen psychischen Konstellationen allgemein, kann man mit Bekanntmachen und Erklären des Phänomens sein Auftreten reduzieren. In der Regel verliert dieser ungünstige psychologische Mechanismus seine Wirksamkeit, wenn er den Menschen bewusst gemacht wird.[8] Aufklärung ist hierbei ebenso wichtig wie Training. Schon im Schulalter, aber auch später in Studium, Ausbildung und Berufsleben, lässt sich durch Übungen, Spiele und Projekte die Diffusion der Verantwortung ‚fühlbar‘ und ‚anfassbar‘ machen. Dieses Üben könnte durch Rollenspiele, Gedankenexperimente oder real beobachtbare Situationen im Team geschehen. Je häufiger dieses Verhalten in ‚Trockenübungen‘ praktiziert wurde, desto stärker wird es verinnerlicht bzw. abgespeichert und kann später in realen Lebenssituationen abgerufen und konkret in die Tat umgesetzt werden. Ebenso führen das Vorhandensein von Wissen, z.B. um die Funktionsweise der Sicherheitssysteme im öffentlichen Bereich (Notbremse, Notruf), und von Handlungskompetenzen wie die Erfahrung mit Notsituationen, das Kennen konkreter Handlungsweisen und der Ersten-Hilfe, zu einem sicheren Umgang mit Notsituationen und erhöhen den Entschluss zum Eingreifen.[9] Mit dieser Form der Aufklärung und dem praktischen Üben sollte die soziale Hemmung der Zivilcourage[10] verringert und im Optimalfall sogar ganz aufgehoben werden.[11]

Um die Wahrscheinlichkeit der Verantwortungsübernahme zu erhöhen, ist es also sinnvoll, den potentiell Helfenden direkt anzusprechen und um Unterstützung zu bitten. Studien von Shaffer/Rogel/Hendrick (1975)[12] belegen diesen Ansatz. Für Katharina bedeutet das, dass es notwendig ist, die Passanten auf der Promenade direkt anzusprechen, um konkrete Mithilfe zu bitten und am besten die nötigen Aufgaben zu verteilen: wer soll den Krankenwagen rufen, wer soll die Polizei alarmieren, wer soll Erste-Hilfe leisten, wer soll eine Decke besorgen, usw. Dies würde übrigens auch für den Fall gelten, dass Katharina selbst in eine Notsituation kommen würde: Sofern sie noch bei Bewusstsein ist, sollte sie konkret Passanten, Kommilitonen etc. ansprechen und gezielt um Hilfe bitten.

Autorinnen: Tina Nalbantoglu & Angela Poech von Ethica Rationalis e.V.

 

Fußnoten:

[1] Bierhoff, H.-W. – Rohmann, E. (2011): Diffusion der Verantwortung. S. 29 in Maring, M. (Hrsg.): Fallstudien zur Ethik in Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Gesellschaft (2011)
[2] Jonas K. – Tanner C. (2006): Effekte sozialer Förderung und Hemmung. S. 167 in Schweizer, K. (Hrsg.): Leistung und Leistungsdiagnostik (2006)
[3] Westdeutscher Rundfunk (2019)
[4] Gerhardinger, F. (2016): Zivilcourage. S. 299 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016)
[5] Bierhoff, H.-W. – Rohmann, E. (2011): Diffusion der Verantwortung. S. 33 in Maring, M. (Hrsg.): Fallstudien zur Ethik in Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Gesellschaft (2011)
[6] Gerhardinger, F. (2016): Zivilcourage. S. 299 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016)
[7] Levine, R.V. – Martinez, T.S. – Brase, G, – Sorensen, K. (1994): Helping in 36 U.S. cities. S. 69-82 in Journal of Personality and Social Psychology 67 (1994)
[8] Bierhoff, H.-W. – Rohmann, E. (2011): Diffusion der Verantwortung. S. 34 in Maring, M. (Hrsg.): Fallstudien zur Ethik in Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Gesellschaft (2011)
[9] Gerhardinger, F. (2016): Zivilcourage. S. 300 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016)
[10] „Zivilcourage ist ein mutiges, prosoziales Verhalten, dass durch Emotionen begleitet und mit dem Risiko negativer Konsequenzen und unter Umständen mit einem Normenbruch verbunden ist“ in: Gerhardinger, F. (2016): Zivilcourage. S. 299 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016)
[11] Bierhoff, H.-W. – Rohmann, E. (2011): Diffusion der Verantwortung. S. 34 in Maring, M. (Hrsg.): Fallstudien zur Ethik in Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Gesellschaft (2011)
[12] Shaffer, D.R. – Rogel, M. – Hendrick, C. (1975): Intervention in the library: The effect of increased responsibility on bystanders’ willingness to prevent a theft. S. 303-319 in Journal of Applied Social Psychology 5 (1975)