Wir haben die INUAS-Fachtagung „Kriminalprävention durch Leseprojekte. Literaturgestützte Kompetenzförderung und Wertebildung“ gefördert und möchten an dieser Stelle kurz über den Erfolg der Veranstaltung berichten. Literaturgestützte Kompetenzförderung und Wertebildung ist ein Arbeitsfeld von Ethica Rationalis, das dem Verein ganz besonders am Herzen liegt. Erwähnt sei auch, dass unser Partner „Förderverein KonTEXT Leseprojekt“ ein inhaltlicher Mitveranstalter war.
Die Tagung fand vom 28.06 bis 29.06.2024 an der Hochschule München – Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften – statt. INUAS ist ein Netzwerk von Hochschulen für angewandte Wissenschaften in München, Wien und Zürich, das für Themenschwerpunkte rund um urbane und regionale Lebensqualität gesellschaftliche Verantwortung übernimmt und sich als strategischer Partner für die Metropolregionen versteht.
Worum ging es bei der Veranstaltung?
Die Fachtagung bot die Möglichkeit, mehr über die Zusammenhänge von Einstellungsmustern, Bildung und Jugenddelinquenz zu erfahren, über existierende und angedachte literaturgestützte kriminalpräventive Angebote in einen Austausch zu kommen und aktiv an der Diskussion über die Chancen von und Voraussetzungen für eine wirksame Kompetenzförderung und Wertebildung durch Leseprojekte teilzunehmen.
Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen spielt eine entscheidende Rolle in ihrer persönlichen Entwicklung und für ihre gesellschaftliche Integration. In einer vielfältigen Gesellschaft sind soziale Kompetenzen und ein Austausch über Werte besonders bedeutsam. Die Förderung der Lesekompetenz ist essenziell, da sie nicht nur den Zugang zur Informationsgesellschaft und sozialen Teilhabe ermöglicht, sondern auch die persönliche Weiterentwicklung unterstützt. Lesen eröffnet die Möglichkeit zur kritischen Betrachtung der eigenen Realität und fördert die individuelle sowie soziale Identitätsbildung. Durch den interaktiven Austausch über Literatur können zudem persönliche Themen diskutiert und reflektiert werden. Dieser Dialog trägt dazu bei, ein tieferes Verständnis für unterschiedliche Perspektiven zu entwickeln und fördert somit eine offene und tolerante Gesellschaft.
Im Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung (Stand: Juli 2024) rangiert das Sicherheitsgefühl auf Rang 3 der von der Bevölkerung am häufigsten genannten Kriterien für regionale Lebensqualität. Das Gefühl, vor Kriminalität geschützt zu sein, wird also direkt nach den Aspekten der guten Gesundheitsversorgung und des bezahlbaren Wohnraums genannt (ebd. S. 87). Gerade in den Metropolen München und Wien wurde das Sicherheitsgefühl in jüngster Zeit aber durch zahlreiche Berichte über einen deutlichen Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität, insbes. im Bereich der Gewaltdelinquenz, negativ beeinflusst. Die vom Verein Ethica Rationalis e.V. mit einer grozügigen Spende unterstütze INUAS-Fachtagung „Kriminalitätsprävention durch Leseprojekte“ bewegte sich damit im Kernbereich des Themenschwerpunkts „Urbane Lebensqualität“ des INUAS-Hochschulverbundes.
Was wurde diskutiert?
Rund 80 Wissenschaftler und Praktiker aus dem gesamten Bundesgebiet, Österreich und der Schweiz diskutierten zwei Tage lang über die Potenziale von Leseprojekten zur Kriminalitätsprävention, Kompetenzförderung und Wertebildung. Den Auftakt bildete der Vortrag des Leiters des kriminologischen Instituts an der ZHAW, Dirk Baier, der die in den Polizeistatistiken der drei Länder ausgewiesenen Zahlen zur Entwicklung der Jugendkriminalität im Einzugsbereich des INUAS-Verbundes aus kriminologischer Perspektive beleuchtete und Forschungsergebnisse zu den Zusammenhängen zwischen Bildung und Delinquenz präsentierte.
Welche Chancen bieten Leseprojekte und was braucht es zur Umsetzung?
Angesichts der von ihm aufgezeigten Korrelationen zwischen niedrigen/fehlenden Schulabschlüssen, Schulabsentismus/ vorzeitigen Schulabbrüchen und Inhaftierungsrisiko gewannen die anschließend von der Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen präsentierten neuesten Zahlen zur weiteren deutlichen Zunahme von Leseschwächen bei Kindern- und Jugendlichen besonderes Gewicht: Mehr als 25% der 15-Jährigen verfügen nach den Ergebnissen der jüngsten PISA Studie über keine ausreichende Lesekompetenz, sind damit stark gefährdet, die Schule ohne Bildungsabschluss zu verlassen und in die Gruppe der jungen Menschen mit erhöhtem Delinquenzrisiko zu fallen.
Bereits an dieser Stelle deuteten sich die Chancen von Leseprojekten an, die anschließend in drei Workshops zu den Leseprojekten des Jugendamts Dresden, der HM und der ZHAW diskutiert wurden. Hier – wie schon während der Vorbereitung der Tagung – zeigte sich, dass die Idee von Leseprojekten in Deutschland inzwischen bundesweit Schule gemacht hat und in den letzten Jahren vielerorts Angebote für Lesemaßnahmen mit straffällig gewordenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickelt wurden. Allerdings zeigte sich auch, dass die konkreten Projektansätze vor Ort stark divergieren. Ferner wurde von vielen Jugendämtern bereits im Vorfeld der Tagung der Wunsch nach Unterstützung beim Aufbau von Leseprojekten artikuliert. Insgesamt wurde ein dringender Bedarf für eine Vernetzung und eine dadurch ermöglichte Entwicklung von Qualitätsstandards sichtbar. Die drei Hochschulen können hier auf der Grundlage ihrer Expertise und – im Fall der HM – langjährigen eigenen Praxiserfahrungen eine zentrale Rolle übernehmen.
Welchen wichtigen Beitrag die Hochschulen dadurch auch zur Demokratiebildung bei jungen Menschen leisten könnten, verdeutlichte der Vortrag des Konflikt- und Gewaltforschers Andreas Zick zu Beginn des zweiten Tages der Tagung. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der unter seiner Leitung im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten „Mitte-Studie“ (2023) zu rechtsextremen und demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland forderte er ein Leseprojekt für die Mitte der Gesellschaft und entpuppte sich im weiteren Verlauf seines Vortrags als vehementer Befürworter von Leseprojekten, wie sie an der HM und der ZHAW praktiziert werden. Durch Lesen und Literatur könne die Auseinandersetzung mit Rassismus, Klassismus, Sexismus und Antisemitismus gefördert, Perspektivenübernahmen angeregt, Hoffnung und Selbstwirksamkeit vermittelt, Vertrauen in andere gestärkt und verletzte Würde wiederhergestellt werden.
Voraussetzung für derartige Effekte ist allerdings ein richtiger Rahmen für die Aneignung von literarischen Texten und die anschließende Auseinandersetzung mit diesen im Rahmen von Gesprächen mit den jeweiligen Teilnehmenden. Hierfür lieferten der nachfolgende Vortrag von Sabine Anselm, der Leiterin der Forschungsstelle für Werteerziehung und Lehrerbildung an der LMU, und die daran anknüpfenden Workshops mit weiteren namhaften Sprach- und Literaturdidaktikerinnen wichtige Impulse und Hilfestellungen.
Groß war das Lob in der abschließenden Auswertungsrunde über das Gesamtprogramm, die hohe Qualität der einzelnen Beiträge, die inhaltlichen Inputs und Diskussionsmöglichkeiten in den Workshops sowie die Organisation der Veranstaltung. Die Basis für den Aufbau eines bundesweiten, Österreich und die Schweiz umspannenden Netzwerks wurde gelegt. Damit wurde zugleich ein Rahmen für einen weiteren Erfahrungsaustausch und die Entwicklung von Qualitätsstandards geschaffen, wie sie allen Beteiligten notwendig erscheinen. Ein Tagungsband ist in Vorbereitung.
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Danksagung unseres Partners KonTEXT Leseprojekt:
Liebe Mitglieder des Vereins Ehica Rationalis e.V.,
seit seinen Anfängen wird das KonTEXT Leseprojekt für straffällig gewordene junge Menschen an der Hochschule München durch Ihren Verein auf vielfältige Weise unterstützt. Dadurch wurde es möglich, annähernd 10.000 Jugendliche und junge Erwachsene über die verschiedenen Projektangebote (u.a. Lesegruppen und einzelbetreute Maßnahmen) zu erreichen. Darüber hinaus hat das Projektteam zwei Fachtagungen zum Lesen und der Wertebildung durch Literatur organisiert, deren letzte Ende Juni an der Hochschule München stattfand. Auch hier hat Ihr Verein durch großzügige Spenden maßgeblich dazu beigetragen, dass die Veranstaltungen beide Male ein großer Erfolg wurden und zu qualitativen Weiterentwicklungen des Projekts inspirierten. Dafür möchte ich Ihnen allen sehr herzlich danken und hoffe, dass ich durch den obigen Bericht einen Eindruck vom Verlauf der Tagung in diesem Sommer vermitteln konnte.
Mit den besten Grüßen,
Ihre Caroline Steindorff-Classen