Die Artikelüberschrift ist ein wenig provokativ – Ethik wird verglichen mit “Spiele-Leveln”, wie in einem Computerspiel … das wird doch der Bedeutung von Ethik nicht gerecht – könnte man dagegenhalten. Aber, eine Aufteilung von Ethik in leichter verdauliche Häppchen oder Level kann uns durchaus helfen, ihre Komplexität anschaulicher und begreifbarer zu machen. Außerdem kennen wir alle Menschen, die auf einem hohen und sehr schweren Niveau (oder eben Level) Ethik praktizieren, das heißt ethische Handlungen vollbringen, zu denen wir (im Moment – oder auf unserem aktuellen Level) nicht in der Lage wären.
Wieso nun die Analogie zu einem Computerspiel? Hier wie dort steigert sich der Schwierigkeitsgrad von Level zu Level. Es kommen neue Schwierigkeiten und Herausforderungen hinzu umso weiter man kommt. Es tauchen plötzlich neue Figuren, Werkzeuge, Fähigkeiten, etc. auf, die in den unteren Leveln noch gar nicht vorhanden waren und es wird immer komplexer und schwieriger einen Level erfolgreich abzuschließen, aber die Belohnungen werden natürlich auch entsprechend größer.
Level 1 – die Einstiegsethik
Man könnte sagen, dass es sich bei diesem Level um den Start-Level handelt, mit dem wir in unser Leben starten. Einer der prägensten Faktoren hierbei ist die ethische Erziehung, die wir in unserer Jugend erhalten haben. Dazu kommt noch die persönliche Eignung. Manche Menschen tragen ethische Eigenschaften in sich, ohne sich bewusst für ein solches ethisches Verhalten entscheiden zu müssen: Sie lügen nicht, sind gewissenhaft, ehrlich, nicht rechthaberisch, bescheiden, rücksichtsvoll, empathisch oder von Natur aus hilfsbereit, ohne sich groß überwinden zu müssen. Es handelt sich um ethische Eigenschaften, die durch unterschiedliche Faktoren (wie Erziehung oder Eignung) in unser Wesen einprogrammiert sind. Es handelt sich weniger um eine aktive und bewusste Entscheidung für ein solches Denken und Verhalten.
Es kann aber durchaus vorkommen, dass nur einige Eigenschaften derart „vorprogrammiert“ sind und nicht alle Aspekte des ethischen Handelns einem solchen Automatismus unterliegen. Es ist also denkbar, dass man nicht lügt, aber ansonsten ein Egoist ist und man sich weigert, auch nur die geringste Anstrengung zu unternehmen sich mehr um das Wohl anderer Menschen zu kümmern. Damit bleibt diese Art der Ethik eher statisch: Sie wird uns mit dem Start ins Leben mitgegeben, und das Gleiche gilt leider auch für unsere unethischen Verhaltensweisen. Mit anderen Worten, man ist, was man ist, man kann/will nicht „aus seiner Haut“. Eine echte Veränderung ihres Wesens interessiert sie nicht. Das bedeutet, dass Menschen, die auf diesem Level stehen bleiben hervorragende ethische Anlagen in bestimmten Bereichen haben, aber eine bewusste Überwindung ihrer unethischen Impulse vernachlässigen, die zu einer harmonischen Weiterentwicklung in allen Bereichen führen würde.
Level 2 – die oberflächliche Ethik
Es gibt eine Art gesellschaftliches ethisches Minimum, das ausschließlich mit sozialer Gewohnheit zu tun hat: Es ist eine Ethik, die im Wesentlichen darin besteht, eine Reihe von Regeln einzuhalten, um von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Es handelt sich um eine minimale und eher nach außen gerichteter Ethik mit dem Ziel ein angenehmes Zusammenleben mit seinen Mitmenschen sicherzustellen. Dieser Level hat seinen sozialen Nutzen, bleibt aber oberflächlich, ohne in die Tiefe zu gehen, die für echtes ethisches Verhalten unabdingbar ist. Die äußeren Zeichen der Ethik erscheinen uns dabei wichtiger als die innere Einstellung. Es ist also denkbar anzunehmen, dass es genüge, bescheiden zu wirken, und weiterhin zu denken es sei nicht nötig, sich dazu zu erziehen echte, tief empfundene Dankbarkeit für das zu empfinden was man hat; oder etwa: es genüge für den erfolgreichen sozialen Umgang mit anderen Takt- und Feingefühl zu haben, es sei aber nicht wirklich nötig, mitfühlend zu sein; oder: es genüge in Worten und Umgang höflich zu sein, obwohl man den anderen innerlich verachtet und sich als den Klügsten im Raum ansieht; es genüge, seine Freude über ein Missgeschick anderer zu verbergen, ohne aufrichtig Mitgefühl zu empfinden; es genüge nicht streitlustig zu sein, aber hinter den Rücken der andern spricht man schlecht über sie, etc., etc.
Diese oberflächliche und nach außen gerichtete Ethik ist an das soziale Interesse gebunden: Die Angst, anderen zu missfallen hält mich davon ab, unethisch zu handeln. Der Wunsch, zu gefallen, bewundert zu werden oder sozial erfolgreich zu sein, bringt mich dazu, mich vordergründig ethisch zu verhalten. Diese nach außen gerichteten Verhaltensweisen finden keine Entsprechung in meinem Denken und stehen damit nicht im Einklang mit meiner inneren Realität.
Level 3 – die verändernde Ethik
Die verändernde Ethik bezweckt eine tiefgreifende Transformation in unserem innersten Wesen. Ihre Ziele und Praxis gehen daher weit über die Anforderungen der ersten beiden Level hinaus.
Das Ziel der verändernden Ethik besteht nicht nur darin, eine soziale Ordnung zu gewährleisten, die das Zusammenleben ermöglicht, noch geht es darum, ein ethisches Prinzip aus Gewohnheit zu befolgen, dass uns als Kind beigebracht wurde. Es ist eine Ethik, die zu einer dauerhaften Wesensänderung führt. Auf diesem Level spielt und kämpft man um eine tiefere Dimension der Ethik. Diese Ethik zu praktizieren, erweitert unser Wissen über unser innerstes Wesen, indem wir seine inneren Kräfte – ethische wie unethische – erkennen und kontrollieren lernen. Das Ziel ist eine tiefere Kenntnis von uns selbst.
Die Praxis der verändernden Ethik erfordert großen Mut, Prinzipientreue, Resilienz, Durchhaltevermögen und die Fähigkeit sich immer wieder aufs Neue zu motivieren, denn auf diesem Level sucht man bewusst den Kampf gegen mächtige Gegner auf dem Spielfeld, die man auf den Anfangs-Leveln noch weitgehend ignoriert und gewähren lassen hat. In erster Linie geht es bei diesen Gegnern um die zahlreichen unethischen Impulse in uns, denen wir uns auf diesem Level stellen müssen. Nur wer damit beginnt, diese unethischen Impulse – subtile wie augenscheinliche – in sich selbst zu erkennen und dann den aktiven und bewussten Kampf gegen sie aufnimmt, kann in diesem Level voranschreiten. Das bedeutet, dass man sich immer wieder und so gut wie möglich für ethisches Verhalten entscheidet, mit dem festen Willen, eine Wesensänderung in sich herbeizuführen. Es geht dabei um nichts Geringeres als um eine Veränderung unserer „Wesens-DNA“. Am Ende dieses bewussten Prozesses steht nicht nur die Änderung des rein äußerlichen Verhaltens, sondern die Verwandlung eines unethischen Impulses zu einem ethischen Impuls. Ein probates Werkzeug in diesem Kampf ist z.B. nicht nur auf sein Gewissen zu hören (sofern dieses gut eingestellt ist), sondern zu versuchen ihm auch zu folgen – die Anwendung der „Goldenen Regel“ hilft dabei.
Bei der verändernden Ethik handelt es sich um eine bewusste Geisteshaltung und Einstellung zum Leben. Man führt ein Leben inmitten der Gesellschaft, wie alle anderen auch: mit Familie, Arbeit, dem Streben nach Wohlstand, sozialem Erfolg, usw. Gleichzeitig geht es aber auch darum, seinem Leben eine andere Dimension hinzuzufügen und das Leben als eine Gelegenheit zu verstehen, sein innerstes Wesen durch die Praxis der verändernden Ethik zu transformieren. Diese Dimension kommt nicht wie ein Hobby oder eine gelegentliche Aktivität zu unserem Leben hinzu, sondern ist ein integraler Teil davon. Sie berührt unsere Weltanschauung und die Sinnhaftigkeit unseres Lebens. Aus dieser Perspektive ist die verändernde Ethik nicht ein Mittel, um besser zu leben: Das Leben ist ein Mittel, um uns ethisch als Mensch in unserem Menschsein weiterzuentwickeln und ein wahrer Mensch zu werden.
Noch eines: Als Menschen sind wir verstandesbegabt und verfügen entsprechend des Entwicklungsstandes unseres Verstandes über einen freien Willen. Warum machen wir also nicht einfach von unserem freien Willen, unserem Verstand und unserer Vernunft einen besseren Gebrauch und nutzen sie, um die Anfangs-Level der Ethik hinter uns zu lassen und begeben uns in den Kampf der Weiterentwicklung unseres innersten Wesens? Das Leben verliert mit dieser Sichtweise und Weltanschauung seinen Selbstzweck-Charakter und gewinnt einen neuen Sinn, indem es als eine notwendige Etappe in einem umfassenderen Prozess der Veränderung und Reifung unseres innersten Wesens wahrgenommen wird.
Autoren: Das Ethica Rationalis Redaktions-Team