Perspektivenwechsel

„Perspektivenwechsel (2)“ – ein schwieriges Verhältnis

Wie im vorigen Artikel angekündigt wollen wir tiefer in das Thema Perspektivenwechsel eintauchen und dazu praktische Beispiele aus dem Buch „Shifting Perspectives (Perspektivenwechsel)“ von Olivier de Brivezac und Emmanuel Comte vorstellen.

Generell ist es so, dass, sobald wir uns in einer subjektiv schwierigen oder uns belastenden Situation befinden, die Herausforderung gerade in der Einnahme der „richtigen“ Perspektive besteht. Aber was ist denn diese richtige Sichtweise auf eine gegebene schwierige Situation? Wie und von wem wird „richtig“ definiert? Das Adjektiv „richtig“ beschreibt in diesen Zusammenhang diejenige Wahrnehmung der Situation, die nicht nur für das jeweilige Individuum am wenigsten schmerzhaft und belastend ist, sondern zusätzlich noch die Möglichkeit bietet einer Situation konstruktiv und bereichernd zu begegnen. Es geht dabei nicht nur um das Erkennen von „Fehleinstellungen“ in unserer Wahrnehmung einer Situation, wobei eine Fehleinstellung so definiert wird, dass unsere Wahrnehmung und Bewertung der Situation uns unglücklich macht und wir darunter leiden. Der Gegenspieler zu diesen Fehleinstellungen ist das sogenannte „Gut sehen“. Damit ist eine Wahrnehmung gemeint, die nicht nur der Realität entspricht – also keine Fiktion ist –, sondern besonders die, die in jeder auch noch so schwierigen Situation auch immer die enthaltenen positiven Aspekte in die Betrachtung mit einbezieht. Dies führt dazu, dass wir uns nicht mehr ungerecht behandelt und unverstanden fühlen, hilflos ausgeliefert und überwältigt, sondern öffnet die Tür zu selbstbestimmtem, konstruktivem Handeln und höherer Resilienz und Zufriedenheit im Leben.

Werden wir konkreter und schauen uns folgendes Beispiel an, um die Herangehensweise klarer zu machen: Es handelt sich bei dem Beispiel um eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, unter der sowohl die Tochter, aber auch die Mutter leiden:

Meine Mutter hat viele gute Eigenschaften; sie hat sehr viel für mich und unsere Familie getan. Ich bin mir dessen sehr wohl bewusst und habe als Kind die moralische Pflicht sie zu respektieren. Dennoch hat meine Mutter Fehler, die den anderen sofort ins Auge springen: ein Mangel an Takt- und Fingerspitzengefühl, weshalb ich mich lange Zeit für sie geschämt habe, und sie ist mir auch heute noch in Gesellschaft oftmals peinlich. Viele Jahre lang hat mich diese Eigenschaft an ihr gestört und ich habe darunter gelitten. All die gereizten Bemerkungen, die ich diesbezüglich gemacht habe, haben sie nur verärgert und noch verbitterter werden lassen. Ich habe mich vollständig auf ihre Fehler konzentriert, bis ich nur noch diese und nichts anderes mehr gesehen habe. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es falsch war, das zu tun. Dadurch hat sich mein Leid noch verdoppelt: Einerseits konnte ich die Fehler meiner Mutter kaum ertragen, andererseits litt ich unter Gewissensbissen, weil ich genau gespürt habe, dass ich ihr Respekt schulde und dass meine Vorwürfe unangebracht waren…

Was wäre nun ein konstruktiver und positiver Ansatz, um diesen Konflikt aufzulösen oder zumindest leichter erträglich zu machen? Reicht es aus, dass man sich dazu zwingt, nur noch die guten Eigenschaften sehen zu wollen und alle schlechten Eigenschaften einfach auszublenden? Mit anderen Worten, einfach nur die Brille zu wechseln und man von nun an alles nur noch rosa (positiv) sieht was das Verhalten der Mutter angeht? Wenn es nur so einfach wäre … – man wird nicht umhin können an seiner gesamten Sichtweise zu arbeiten. Man kann bereits erahnen, dass dieser Prozess eine Menge Geduld erfordern wird, nur schrittweise ablaufen kann und praktische „Übung“ erfordert. Man wird nicht von heute auf Morgen eine ausgewogenere Sichtweise auf seine Situationen im Leben und andere Menschen einnehmen können.

Gut sehen ist also ein Lernprozess. Es geht nicht um einen blinden Optimismus („alles ist rosa und alle sind gut“), noch um das Erreichen eines Zustands der Gleichgültigkeit. Ganz im Gegenteil, es geht darum hinter die Situationen zu blicken, ihre Auslöser und Mechanismen in einem selbst und den anderen zu verstehen und dann daraus die richtigen Schlüsse für ein ethisches Denken und Handeln zu ziehen.

Der erste Schritt könnte also darin bestehen, dass die Tochter bewusst anfängt die Mutter in ihrer Ganzheit zu sehen. Also den Blick nicht nur auf ihre vermeintlichen Fehler, die sie stören, richtet, sondern sich ganz bewusst auf die Qualitäten der Mutter, deren Stärken, und all das Gute was diese für die Tochter und die Familie getan hat, konzentriert – Dies führt zu einer Perspektivenerweiterung.

Ein zweiter Schritt kann darin besten, dass die Tochter sich in Nachsicht übt und bewusst eine verständnisvollere und tolerantere Perspektive einnimmt. Sie kann sich dazu fragen: warum verhält sich meine Mutter oftmals so unangenehmen und taktlos, was habe ich mit meinem Verhalten eventuell dazu beigetragen, dass sie sich mir und anderen gegenüber so verhält – also der Frage nachgehen, ob der Auslöser dieses Verhaltens meiner Mutter auch in mir selbst liegen könnte? Also was trage ich (im negativen Sinne) zu der Situation bei? Was ist mein Anteil?

Ein dritter Schritt könnte dann sein, dass die Tochter sich mit dieser neuen, bewusst geänderten Einstellung gegenüber ihrer Mutter ein Programm festlegt. Dieses Programm (diese Hausaufgabe) könnte darin bestehen, sich mehr in den direkten Austausch mit ihrer Mutter zu begeben. Gerade dieser Punkt ist von enormer Bedeutung, da es nicht ausreicht an den Gedanken gegenüber der Mutter zu arbeiten. Da kann man sich leicht selbst täuschen und diese Arbeit wäre noch nicht tiefgreifend genug. Erst die Realität, also der direkte Austausch mit der Mutter und die direkte Konfrontation mit den Charaktereigenschaften der Mutter und seiner neu eingenommenen, erweiterten Perspektive wird zeigen, ob man es tatsächlich geschafft hat einen echten Perspektivenwechsel zu erreichen. Das wird erfahrungsgemäß viel direkten Austausch benötigen, wo man sich immer und immer wieder dabei ertappen wird, in alte Denk- und Verhaltensmuster und seine reduzierte Sicht der Dinge zurückzufallen. Ohne die wiederholte Praxis der erweiterten Sichtweise und dieses neuen, ganzheitlichen Denkmusters wird es keinen dauerhaften Perspektivenwechsel geben.

So ein Programm wird nur Erfolg haben, wenn der Leidensdruck in der jeweiligen Situation groß genug ist, um mit einem neuen Ansatz zu experimentieren. Ziel dabei ist weniger Stress und Leid zu empfinden, sich selbst und seine eigenen Antriebe besser kennenzulernen und den anderen Menschen in unserem Leben mit größerem Verständnis und einer umfassenderen Sicht auf die jeweilige Situation zu begegnen.

Im Folgeartikel werden wir uns mit den Formen der „Negativen“ Sichtweise (Pessimismus) befassen.

 

Autoren: Das Ethica Rationalis Redaktionsteam