Die momentane Weltlage kann schnell dazu führen, dass man sich überfordert und bedroht fühlt. Jeden Tag wird man mit neuen Horrornachrichten bombardiert, die wirtschaftliche Lage ist schwierig und es ist noch offensichtlicher als sonst, dass niemand Gewissheit hat, was die Zukunft angeht. Das wird bei vielen von uns Angst und Stress auslösen. Manche finden aber auch einen Weg diese negativen Gedanken und Emotionen zu neutralisieren bevor uns diese paralysieren oder krank machen.
Unsere Artikelreihe zum Thema „Perspektivenwechsel“ ist daher als Hilfestellung gedacht, die dazu dienen kann, die individuelle, subjektive Wahrnehmung von Situationen positiv zu beeinflussen, um unsere mentale Gesundheit zu schützen und zu fördern.
Nachdem wir uns im letzten Artikel aus der Reihe mit den Formen der „negativen“ Sichtweise befasst haben, wollen wir hier jetzt die Symptome des „Schlecht-Sehens“ genauer betrachten.
Was sind nun mögliche Symptome des „Schlecht-Sehens“? Wie äußert es sich in der Regel? Die unterschiedlichsten Befindlichkeiten und Verhaltensweisen kommen einem dabei in den Sinn. Jede dieser Befindlichkeiten und Verhaltensweisen offenbart eine allgemeine, ursächliche Sichtweise, die man als „Schlecht-Sehen“ (oder „das Schlechte sehen“) bezeichnen könnte.
Ohne besondere Rangfolge wollen wir hier eine Reihe von Symptomen aufzählen:
- extrem kritisch sein
- nur das Negative sehen, („das Glas ist stets halb leer“)
- pessimistisch und demotiviert sein
- Traurigkeit, Weltschmerz, Depression empfinden
- Versagensgefühle haben
- ständige Frustration empfinden
- mit allem und jedem chronisch unzufrieden sein
- sich ständig über alles und jeden beschweren
- überall Ungerechtigkeit sehen und sich darüber empören
- melancholisch, apathisch, ruhelos oder ängstlich sein
- neidisch auf den Erfolg anderer sein
- sich ständig mit anderen vergleichen
- eine übersteigerte Aufmerksamkeit für das, was andere tun, denken, was andere bekommen, usw. – man findet fast schon Vergnügen daran, sich mit anderen, die aus seiner subjektiven Sicht heraus mehr haben, zu vergleichen
- usw.
Kommt Ihnen das eine oder andere Symptom vertraut vor?
Da das eigene „Ego“ den Blick auf sich selbst sehr gut verzerren oder sogar ganz verstellen kann, kann es bei seiner Selbstanalyse sehr hilfreich sein, sich zu fragen, ob das nähere Umfeld öfter Bemerkungen über einen fallen lässt wie: „Du siehst immer nur schwarz“, „Du siehst immer nur das Schlechte“, „Sei doch nicht so verbittert“, „Warum hast du Y so angegriffen“, „Hast du jetzt genug gejammert?“, usw. Auch den Tag am Abend Revue passieren zu lassen und sein Verhalten während des Tages mit etwas Abstand auf diese Symptome zu untersuchen kann hilfreich sein. Die Erfahrung zeigt, dass auch ein Tagebuch führen besonders geeignet ist. Sein Verhalten niederzuschreiben, zwingt einen nämlich dazu in der Analyse bewusster zu sein, da man seine Gedanken ausformulieren muss.
Schauen wir uns nun ein konkretes Beispiel an, das uns den Prozess der Selbstanalyse etwas näherbringt und das auch so in dem dieser Artikelreihe zugrundeliegenden Buch „Shifting Perspectives (Perspektivenwechsel)“ nachzulesen ist:
Z erzählt von einer Erfahrung in seinem Beruf: Er wurde in die internationale Abteilung seines Unternehmens versetzt, wo er regelmäßig mit einer Marketing-Managerin zusammenarbeiten musste, die einige Monate zuvor eingestellt worden war.
Ich merkte sofort, dass ich sie nicht mochte. Sie repräsentierte all das, was ich hasste: Sie betonte ständig ihren eigenen Wert, sie wertete alle ab, die nicht ihre Werte teilten, sie gab das Privatleben anderer in der Öffentlichkeit preis, sie verurteilte alle, sie lästerte. Sie nannte die Ingenieure „Techies“, ohne zu versuchen, sie besser kennen zu lernen (da ich einige Monate in der technischen Abteilung gearbeitet hatte, störte mich diese Geringschätzung besonders). Kurzum, ich distanzierte mich sofort von ihr. Es fiel mir sehr schwer, ihre Aussagen wie „die Engländer sind schmutzig“, „die Japaner sind geizig“, „die Techniker kleiden sich schlecht“ usw. zu teilen. Ich widersprach ihr ständig und die Atmosphäre zwischen uns wurde immer angespannter. Pausen und Mittagessen wurden immer unangenehmer und ich versuchte mit allen Mitteln, ihr aus dem Weg zu gehen. Je mehr sich die Situation zuspitzte, desto weniger motiviert war ich, mich bei der Arbeit anzustrengen. Schließlich wurde ich depressiv und unglücklich, ohne genau zu wissen, was der Grund dafür war… Zuerst dachte ich, es könnte Neid sein: Vielleicht beneidete ich heimlich meine Kollegin (sie war beim Chef sehr beliebt). Aber das war nicht der Grund. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass der Grund für meine Gefühle nicht nur ein Persönlichkeitskonflikt war (die berühmte „Unvereinbarkeit der Charaktere“), sondern vielmehr meine Wahrnehmung der Situation und meine Gedanken über diese Person. Ich bin von Natur aus Optimist, ich glaube, ich habe eine natürliche Neigung, das Gute in den Menschen zu sehen. Aber im Grunde war ich seit meiner Jugend nie mit so starken negativen Gedanken über andere Menschen konfrontiert. In diesem speziellen Fall reichte mein natürlicher Optimismus nicht aus, um die guten Eigenschaften meiner Kollegin zu sehen und eine harmonische und höfliche Arbeitsatmosphäre zu schaffen, wie es einigen meiner Kollegen gelungen war.
Dieses konkrete Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass unsere Sicht auf eine bestimmte Situation und auf andere Menschen die zuvor beschriebenen Symptome sehr heftig in uns auslösen kann.
Aber das Erkennen von Symptomen ist natürlich nur das eine – Therapie und Heilung das andere und steht auf einem ganz anderen Blatt. Dazu werden wir in den nächsten Artikeln dieser Artikelreihe kommen, wenn wir uns dann näher mit dem positiven Gegenstück des „Schlecht Sehens“ dem „Gut Sehen“ beschäftigen werden.
Autoren: Das Ethica Rationalis Redaktionsteam