Am 8. April haben wir Sie gefragt: Was berührt Sie im Moment ganz besonders? Uns hat auf diesen Aufruf hin ein sehr vielfältiges Stimmungsbild erreicht – so vielfältig, dass wir beschlossen haben, die Ergebnisse in zwei Beiträgen aufzubereiten [1].
Zwei große Strömungen konnten wir erkennen: Zum einen zwingt uns die Corona-Krise zur Reflexion, zum Innehalten, zum Hinterfragen von Gewohnheiten und Denkmustern; zum anderen erlaubt sie uns aus diesem Abstand heraus den Blick für unseren Nächsten zu öffnen und Menschlichkeit zu praktizieren.
Im Zusammenhang mit diesem Beitrag haben wir auch mit Experten aus unserem Netzwerk gesprochen, die sich um all jene Menschen kümmern, die von der Krise stärker betroffen sind als andere. Einige dieser Organisationen haben uns ihre Sichtweise geschildert und wir würdigen ihren Einsatz in den Sprechblasen: Klicken Sie einfach auf die entsprechende Sprechblase, falls Sie Unterstützung anbieten oder spenden möchten. Ein hinterlegter Link leitet Sie dann auf deren Webseite und dort erfahren Sie weitere Details.
Reflexion: Den Blick neu justieren
Durch den erzwungenen Stillstand oder zumindest die Entschleunigung gewisser Lebensbereiche nehmen wir Abstand. Wir betrachten unser Leben mehr aus der Vogelperspektive und nehmen eine Neubewertung vor. Gewohnte Routinen werden durchbrochen und legen den Blick frei, so dass man feststellt: „…dass die Gewichtung vieler materieller Dinge, aber auch Beziehungen zu anderen und zu mir selbst, ganz anders ausfallen“. Man hatte mehrere Reisen geplant, die man nun eine nach der anderen absagen musste: „…normalerweise ist mir das sehr wichtig. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass ich es recht gelassen hinnahm… Ich fasse es mal so zusammen: Die Dinge wurden in den letzten Wochen etwas geradegerückt.“ Harald Lesch, Wissenschaftler und Journalist, fasst es treffend zusammen: „Das war jetzt ein deutliches Zeichen, dass wir auch ganz anders leben können. Dass wir nicht pausenlos unterwegs sein müssen […] Viele der so genannten Macher, die jetzt von Hundert auf Null runtergebremst wurden, hatten nun die Zeit sich zu überlegen, ob sie eigentlich wie bisher weitermachen wollen.“ [2] Wenn man sich darauf einlässt, ist diese Zeit eine Einladung „nachzudenken, was wirklich wichtig ist im Leben“.
Resilienz: Aus den eigenen Ressourcen schöpfen
Wir haben den ersten Beitrag, der uns erreicht hat, als Titel gewählt, weil er auf ein psychologisches Phänomen verweist, das sowohl individuell wie gesamtgesellschaftlich zum Tragen kommt: Resilienz oder Widerstandskraft [3]. Es ist unter anderem die Fähigkeit, bei widrigen Bedingungen auf eigene Ressourcen zugreifen zu können, die die Psyche stabilisieren. Bei unseren Lesern sind das mehrere Bereiche. Zum einen ist die Natur eine Energiequelle: „Ich war der Natur schon immer sehr verbunden, aber der Blütenreichtum und der Vogelgesang erreicht mich dieses Jahr auf einer tieferen Ebene: der Ebene der Dankbarkeit, der Ebene des Staunens über die Schönheit der Schöpfung und der Ebene tiefer Herzensfreude.“ Andere Stimmen betonen den Rückhalt in ihrem direkten Umfeld: „Ich hatte vergessen, wie wertvoll und vergänglich die Zeit mit meiner Familie ist.“ Die Krise bietet für viele unserer Leser die Chance zur Rückbesinnung, dass unsere Liebsten unsere Kraftquellen sein können, in guten wie in schwierigen Zeiten. Und so geht man mit Familie und Freunden „im Moment besonders sorgsam um“ und erfreut sich „am gemeinsamen Kochen“.
In vielen Beiträgen schwingt auch eine große Dankbarkeit mit, für die Natur, für die Familie, für „Menschen, die beim Spaziergehen Augenkontakt suchen und mich mit einem Lächeln begrüßen“. Insgesamt wurde deutlich, dass unsere Sinne geschärft sind und dass scheinbar unbedeutende Ereignisse weitaus bewusster wahrgenommen werden als zuvor – und dass man bescheidener wird: „Durch Genügsamkeit gepaart mit Dankbarkeit kann ich mehr Freiheit im Alltag erlangen.“ Nicht nur einzelne Personen können Resilienz aufweisen, sondern auch ganze Bevölkerungsteile – was sich daran erkennen lässt, wie gut oder schlecht bestimmte Länder damit zurechtkommen, in ihrer Freiheit beschnitten zu sein.
Kontrollverlust: Dem Leben vertrauen
Wie zu erwarten war, erleben die meisten Menschen derzeit einen großen Kontrollverlust. Psychologisch gesehen haben Menschen ein hohes Bedürfnis nach wahrgenommener Kontrolle [4]. Das Virus und die Ausgangsbeschränkungen stellen für die meisten Menschen eine Bedrohung dar, mit der sie völlig unerwartet konfrontiert wurden: keine Reisen, keine Besuche, keine Partys, kein Shopping… oder noch schlimmer: kein Einkommen, kein Umsatz mehr… der gewohnte Lebensstil einfach aufgehoben, von jetzt auf jetzt: „Mich bewegt der Gedanke, dass trotz aller Möglichkeiten, die dem ‚modernen‘ Menschen zur Verfügung stehen, wir nicht alles unter Kontrolle haben“. Und wir sehen, dass die, die wir als Experten angesehen haben, selbst nicht alle Antworten parat haben. „Unser sicher geglaubtes Fundament wackelt, und wir müssen lernen, mit der Unsicherheit zu leben.“ – vermutlich sogar für einen sehr längeren Zeitraum als anfänglich gedacht. Dieses Erleben führt zu einem Gefühl von Hilflosigkeit [5] – das übrigens schon dadurch entstehen kann, dass man eine andere Person dabei beobachtet, wie sie selbst einen Mangel an Kontrolle erleidet. Die Folgen sind je nach Persönlichkeit Verdrängen, Antriebslosigkeit, Wut oder Beeinträchtigungen des Selbstwerts – allesamt Symptome, die bereits in der ersten Phase dieser Krise beobachtbar sind. Diese Hilflosigkeit ist für den Menschen sehr schwer zu ertragen, denn „diese Zeit bringt viele tief in uns verankerten Ängste an die Oberfläche, die angeschaut und geheilt werden wollen.“ Wer beispielsweise schon als Kind sehr starke Einschränkungen erlebt hat, der wird eine staatlich verordnete Ausgangssperre eher als Willkür empfinden als jemand, der nicht diese Vorerlebnisse mitbringt. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Kontrollverlust zeitlich gesehen in zwei Phasen stattfindet: 1) Der Umgang mit den starken sozialen Restriktionen und dem Verlust an Mobilität durch die Ausgangsbeschränkungen und 2) die mittel- bis langfristigen Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammen- und Erwerbslebens.
Man kann davon ausgehen, dass der ein oder andere sich vom ersten Schock noch nicht erholt hat: „Wenn man im Auge des Taifuns sitzt, denkt man nur ans Überleben. Aber wenn der Sturm sich gelegt hat, merkt man erst richtig, was los ist… das wird für den ein oder anderen sehr schwer werden.“ Dieser Situation des Kontrollverlusts kann man sich jedoch mit Willenskraft entgegenstellen, indem man das Zepter bewusst in die Hand nimmt. Eine Teilnehmerin formuliert das so: „Wer den Mut hat, sich jetzt diesen Themen zu stellen, hat die Chance in die Freiheit zu gehen.“ Was ‚Freiheit‘ für den Einzelnen bedeutet, muss man selbst definieren. Die Idee dahinter ist, etwas in mir selbst loszulassen, zu hinterfragen oder neu zu definieren. Diese Vorgehensweise erhöht die wahrgenommene Kontrolle: Je höher meine Selbstwirksamkeit [6], desto stärker der Glaube daran, neue oder schwierige Anforderungen aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können.
In Verbindung mit den Punkten Reflexion und Resilienz gibt mir das die Gelegenheit mich selbst zu fragen:
- Welche Möglichkeiten bieten sich mir in der gegenwärtigen Situation?
- Welche Neubewertungen kann ich vornehmen?
- Woraus beziehe ich meine Zufriedenheit im Leben?
- Wo möchte ich in Zukunft die Prioritäten anders setzen?
- Was ist für mich ein gelungenes Leben?
Wenn man davon ausgeht, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt, kann man erkennen, dass die Tatsache, dass man gezwungen ist, „öfter mal Pausen im täglichen egozentrischen Hamsterrad- und Konsumverhalten einzulegen“, dazu führt, „dass man den Blick mehr auf andere richtet – insbesondere auf Menschen, die in unserer direkten Nähe sind.“ Dies führt uns zum zweiten Schwerpunkt der Aussagen, die uns erreicht haben: die angewandte Ethik. Die Krise lenkt den Blick von mir selbst weg auf andere – Eltern im Spagat zwischen Home-Office und Kinderbetreuung, Personen im Einzelhandel oder im Gesundheitswesen mit höherem Ansteckungsrisiko, Unternehmenslenker mit Verantwortung für ihre Mitarbeiter usw. Auch hier sind die meisten Aussagen auf einer Linie: Diese Krise ist eine Aufforderung, mehr Menschlichkeit zu praktizieren.
Autorin: Angela Poech
[1] Alle uns zugesandten und hier wörtlich zitierten Aussagen wurden nur dort behutsam redaktionell verändert, wo es der Sprachfluss erforderte.
[3] Frey, D. (Hrsg.): Resilienz, Psychologie der Werte, S. 157ff.
[4] Frey, D. (Hrsg.): Selbstwirksamkeit, Psychologie der Werte, S. 201ff.
[5] Frey, D. (Hrsg.): Selbstwirksamkeit, Psychologie der Werte, S. 201ff.
[6] Frey, D. (Hrsg.): Selbstwirksamkeit, Psychologie der Werte, S. 201ff.
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