Was bedeutet das für uns: „Den Nächsten lieben wie sich selbst“?
Es gibt ein Gebot, das in den drei Religionen, die von Abraham abstammen, eine zentrale Rolle spielt: Das Gebot der Nächstenliebe. So heißt es etwa im zweiten Kapitel des Philipper Briefs: „Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.“ Damit ist die Aufforderung verknüpft, nicht nur an die eigenen Bedürfnisse zu denken, sondern über den Tellerrand hinaus zu blicken, das Wohl der Mitmenschen im Auge und für deren Nöte und Sorgen ein offenes Ohr zu haben. Auch finden wir bei Mohammed, dem Propheten des Islam, den Satz: „Niemand von Euch hat den Glauben erlangt, solange er nicht für seine Brüder liebt, was er für sich selbst liebt.“1 In beiden Aussprüchen erkennen wir die Goldene Regel, die jenseits von Konfessionen allgemeine Gültigkeit besitzt: Dass wir für andere wünschen, was wir für uns selbst wünschen, und von anderen fernhalten, was wir selbst nicht für uns möchten. Bemerkenswert ist auch, dass es aus theologischer Sicht eine enge Verknüpfung zwischen Gottes- und Nächstenliebe gibt: „Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan.“2 Für den Gläubigen bedeutet dies, dass er dem Schöpfer nicht nur auf direktem Wege nahekommen kann, sondern auch durch andere Menschen: „Verborgen im Herz eines jeden Menschen sitzt ein göttlicher Partikel: die Herzen anderer anzuziehen, bedeutet also, die göttliche Gnade anzuziehen.“3
Von den alltäglichen Nöten des modernen Menschen
Es geht mithin um die Pflicht des Gläubigen, sich um die zu kümmern, die weniger haben als er selbst – weil sie krank oder ausgestoßen sind (man denke an die Leprakranken), weil sie gesellschaftlichen Randgruppen oder Minderheiten angehören, weil sie arm sind oder auf andere Weise in Not. Sicherlich hat sich die Definition dessen, was „bedürftig“ ist, in der heutigen Gesellschaft geändert: Soziale Sicherungssysteme ermöglichen einen Mindeststandard, Krankenversicherungen sichern jedem eine Behandlung zu… Manch einer mag daher geneigt sein zu sagen, dass diese „Not“, von der die Heiligen Schriften berichten, heute nicht mehr anzutreffen sei. Aber wenn man die Menschen um sich herum aufmerksam beobachtet, stellt man fest, dass sie ebenso ihre „Nöte“ haben, vielleicht noch mehr als in biblischen Zeiten. Die Belastung für den modernen Menschen ist enorm geworden: Zeitdruck, Stress am Arbeitsplatz, Leistungsdruck schon bei Grundschülern, Doppelbelastung durch Arbeit und Familie usw. Hinzu kommt, dass das soziale Auffangnetz größere Löcher bekommt, weil der Staat sich an vielen Stellen diesen „Luxus“ nicht mehr leisten kann. Und tatsächlich: Jeder dritte Deutsche arbeitet in einem Ehrenamt!4 Die Leistungen derer, die sich in ihrer Freizeit für andere engagieren, in der Kindererziehung, im Sport, in den Schulen, summieren sich pro Jahr auf 4,6 Milliarden Stunden.
Wer ist denn heute schon bedürftig?
Ein bewundernswertes Engagement, ganz im Sinne der religiösen Traditionen… und doch bei vielen Menschen nicht durch einen religiösen Glauben heraus motiviert, sondern einfach aus menschlichem Pflichtgefühl. Doch ist das Ehrenamt der einzige Weg, wie wir heutzutage im „Dienst am Anderen“ wirken können? Ist es nicht so, dass wir auch „im Kleinen“ etwas ausrichten können – dort, wo Menschen „ihre tägliche Not“ erleben: Ein Fremder, der sich vor einem Behördengang fürchtet, weil er die Sprache nicht versteht; ein Kollege, dessen Kind erkrankt ist und der fürchtet, seine Arbeit nicht mehr korrekt verrichten zu können; ein Nachbarskind, das in der Schule Schwierigkeiten hat… All diese Menschen sind in einem gewissen Sinne „bedürftig“. Wenn wir unsere Augen für ihre Nöte schärfen, ergeben sich viele Gelegenheiten, ihnen beizustehen und ihr Leid zu mindern: Ein Formular übersetzen und beim Ausfüllen helfen, dem Kollegen einen Vorgang abnehmen, um ihn zu entlasten, den Eltern anbieten, mit dem Kind zu lernen… Die Bandbreite, wie wir andere Menschen unterstützen können, ist enorm: Angefangen von Worten (Ratschläge, Trost, Ermunterungen, Komplimente,…) über den Einsatz von Zeit (Unterstützung bei Krankheit oder Schicksalsschlägen,…) bis hin zur Verwendung von persönlichen Gütern (Verleihen des Autos, Gäste bewirten,…). So kann es sein, dass wir jemanden aufrichtig nach seinem Wohlergehen fragen und dieser sich von Herzen darüber freut, dass wir uns für ihn interessieren. Eine solche scheinbar kleine Tat kann mehr Wirkung haben als eine großzügige Spende.
Ich und der Andere
Das Wort Altruismus stammt aus dem Lateinischen – als Wortstamm finden wir darin „alter“, den anderen. So steht das Wort im Gegensatz zum Egoismus („ego“ für Ich). Altruistisches Handeln heißt somit nicht nur, sich um andere zu kümmern und für deren Bedürfnisse offen zu werden, sondern es heißt auch, gegen die eigenen egoistischen Triebe anzukämpfen. Denn es ist nicht immer einfach, anderen echte Unterstützung zukommen zu lassen. Manchmal sind wir selbst müde oder unter Zeitdruck, haben selbst Probleme und Sorgen – und somit wenig Anreiz, uns mit denen der Anderen zu beschäftigen. Wenn wir gerade nach einem Jahr Arbeitslosigkeit endlich eine neue Stelle angetreten haben und all das damit verbundene Leid vergessen möchten, kann es uns viel Beherrschung kosten, einem Freund beizustehen, der kürzlich genau in diese Situation gekommen ist. Es ist somit ein gewisser innerer Widerstand zu überwinden, den wir aber umso leichter besiegen können, je mehr wir uns verdeutlichen, welche positiven Wirkungen selbstloses Handeln mit sich bringt: Nicht nur, dass wir ein tiefes Gefühl der Freude erleben, wenn wir jemandem geholfen haben. Es ist auch so, dass wir auf Dauer gesehen ein zufriedeneres Leben führen. Der Altruist leistet seinen Beitrag zur Gesellschaft: Er gibt etwas zurück, was er erhalten hat (Erziehung, Bildung, Kultur, öffentliche Dienste etc.). Er sorgt für ein freundliches und harmonisches Umfeld. Er baut Vertrauensbeziehungen auf, weil andere wissen, dass man sich auf ihn verlassen kann. Im Übrigen ist dies das eigentliche Konzept von „Nächstenliebe“: Dem beizustehen, der uns nahe ist. Es muss also nicht die Aufgabe als Entwicklungshelfer sein, in einem fernen Land, sondern es kann in unserem direkten Umfeld jede Menge Herausforderungen geben – in der Familie, im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz, im örtlichen Waisenhaus, in der Unterkunft für Obdachlose.
Wie aber kommt man nun vom Egoismus zum Altruismus? Wie kann der Mensch sich schulen, mehr Aufmerksamkeit für andere zu entwickeln? Diese Fragen werden in unserem nächsten Beitrag zum Thema „Altruismus (Teil 2)“ vertiefen.
Autor: Das Redaktionsteam
1. Hadith Nr. 13, Sammlung Buchari
2. Matthäus 25,40
3. Elahi, B. (2005): Path of Perfection, S. 116 (eigene Übersetzung)
4. AMB Generali (2010): Generali Zukunftsfonds
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