Wie lässt sich Eigenliebe in Nächstenliebe verwandeln?
Schritt 1: Güte
Von der Eigenliebe zur Nächstenliebe… das sind große Worte. Aber der Anfang ist im Grunde denkbar einfach: Wir sollten in uns eine positive Einstellung zu anderen Menschen entwickeln, also eine Grundorientierung, die von Wohlwollen und Hinwendung geprägt ist. Allein diese Einstellung hat bereits eine Wirkung auf andere Menschen, selbst, wenn sie nicht in Worten oder Taten sichtbar wird. So zeigen etwa Untersuchungen zum Thema Judenrettung in der Nazi-Zeit1, dass die Einstellung zu Themen wie Gerechtigkeit und Menschlichkeit das Hilfeverhalten unter natürlichen Bedingungen beeinflusst: Die Retter unterschieden sich von der Vergleichsgruppe der Nicht-Retter dadurch, dass sie mehr das Wohlwollen gegenüber bedrohten Menschen betonten, dass sie die universellen Anforderungen ethischer Regeln einforderten und persönliche Verantwortung und Verpflichtungsgefühle zum Ausdruck brachten. Sie zeigten somit insgesamt eine höhere „soziale Verantwortung“, wie die Psychologie es definiert.
Schritt 2: Empathie
Im nächsten Schritt sollte man durch Beobachtung lernen, Empathie zu entwickeln, das heißt, ein Einfühlungsvermögen für das, was in anderen Menschen vor sich geht, was sie brauchen, was sie bewegt, worunter sie leiden. Empathie ist eine „stellvertretende Emotion“, die man erfährt, wenn man beobachtet, dass sich jemand in einer Notsituation befindet.2 Dies erfordert eine gute Beobachtungsgabe und zugleich einen hohen Grad an Selbsterkenntnis: Wer sich selbst gut kennt, so schreibt Goleman in seinem Buch über Emotionale Intelligenz3, ist auch in der Lage, die Gefühlslagen anderer Menschen gut einzuschätzen. Sieht der Kollege seit gestern nicht etwas blass aus? Ist mein Partner seit ein paar Tagen nicht fahrig und leicht aufbrausend? Je besser wir beobachten, desto besser gelingt es uns, die Situation des anderen zu verstehen. Und erst dann, wenn wir es verstehen, können wir überlegen, wie wir helfen können, wie wir ihm in seiner Situation beistehen können. Denn die große Schwierigkeit besteht darin, wenn wir unseren Blick für die Bedürfnisse der anderen geöffnet haben, zu erkennen, was echte Hilfeleistung bedeutet.
Schritt 3: Altruistische Intelligenz
„Altruistische Intelligenz“ zu entwickeln, also die Fähigkeit zur „richtigen“ selbstlosen Tat, bedarf einer gewissen Übung und man sollte sich auf keinen Fall entmutigen lassen, wenn zunächst Rückschläge zu verzeichnen sind. Denn: Zahlreich sind die Fallen, die bei unseren ersten Versuchen auf uns lauern… Wir drängen unsere Hilfe auf oder sind dabei indiskret, so dass wir die Person beschämen. Schlimmer noch: Wir helfen dem anderen, weil wir dadurch unser eigenes angeknackstes Selbstwertgefühl aufbauen möchten. So berichtet eine Frau, die, nachdem sie ihre Arbeit verloren hat, sich in die Krankenpflege gestürzt hatte und sich erst nach einiger Zeit (vor allem durch die negativen Reaktionen derer, die sie pflegte) bewusst wurde, was ihre eigentliche Motivation war. Eine weitere Falle ist die Undankbarkeit derer, denen wir Gutes tun wollten. Diese Undankbarkeit ist ein natürlicher Begleiter – nicht jeder Mensch kann unsere Hilfe schätzen oder zugeben, dass er sie nötig hatte. Wir sollten uns selbst motivieren, indem wir darauf achten, dass unsere Intention rein ist, dass wir helfen um des Helfens willen, unabhängig vom Ergebnis. Das schließt übrigens auch ein, dass wir uns nicht innerlich beschweren, warum derjenige, mit dem wir mühselig und unter Entbehrungen die schwierige und wichtige Prüfung vorbereitet haben, nicht bestanden hat. Es schmälert unsere Hilfeleistung in keinem Falle, wenn das gewünschte Ziel nicht erreicht wurde. Je unabhängiger wir hier innerlich sind, desto leichter und selbstverständlicher wird sich unsere Hilfeleistung für andere anfühlen.
Was aber, wenn wir uns selbst nicht dazu bewegen können, anderen unter die Arme zu greifen? Wenn wir zwar willens sind und auch den festen Entschluss haben, anderen zu Diensten zu sein, aber am Alltag scheitern: Weil unsere Verpflichtungen uns fest im Griff haben, weil wir selbst enorm unter Druck stehen, weil neben Beruf und Familie keine Zeit bleibt, sich um andere zu kümmern… Wer sich vorgenommen hat, Selbstlosigkeit in seinem Wesen zu entwickeln, sollte sich in diesem Fall durch die Ausrede „Ich habe doch keine Zeit!“ nicht abhalten lassen. Haben wir doch oben erwähnt, dass Güte und Wohlwollen sich auch in den kleinen ethischen Taten im Alltag unterbringen lassen. Die eigentliche Schwierigkeit ist – und das zeigt beispielsweise eine experimentelle Studie von Darley und Batson4 –, dass Zeitdruck dazu führt, dass unsere Wahrnehmung und unser Einfühlungsvermögen geschwächt werden. Das bedeutet, dass jemand direkt neben uns Hilfe benötigen kann – und wir sehen es nicht einmal, weil wir einen Tunnelblick haben und nur auf uns selbst und unser Problem fixiert sind. Es gilt also, im Alltag offen zu bleiben für das, was andere bewegt. Keine leichte Aufgabe angesichts einer Gesellschaft, die täglich mehr beschleunigt.
Das richtige Maß: Grenzen des Altruismus
Beim Stichwort Gesellschaft taucht an dieser Stelle möglicherweise die Frage auf: Aber wenn ich mich selbstlos verhalte in einer Gesellschaft von Egoisten, werde ich dann nicht schamlos ausgenutzt? Ja, das ist richtig. Auch der Altruismus kennt seine Grenzen, genauso wie der Egoismus. In Analogie zu einem gesunden Egoismus könnte man von einem „gesunden Altruismus“ sprechen, das heißt, er muss mit Maß und Bedacht praktiziert werden. Wir sollten uns vergewissern, dass durch unsere Selbstlosigkeit weder unsere eigenen Rechte noch die der Anderen verletzt werden. Wer seine Familie und womöglich sogar seine Kinder zurücklässt, um sich den Großteil seiner Zeit um bedürftige Familien und Kinder zu kümmern, berücksichtigt nicht, dass die Rechte derer, die uns nahestehen, höher wiegen. Und wer sich nur noch um andere kümmert und dabei seine Gesundheit aufs Spiel setzt, wird auch merken, dass dieses Verhalten eine Sackgasse ist: Eines Tages, wenn sein Körper ihm das Stoppschild zeigt, wird er weder sich noch den anderen helfen können.
Zuletzt noch ein Wort zu den Wirkungen des Altruismus auf uns und andere. Es wurde bereits erwähnt, dass wir selbst in größtem Maß davon profitieren, wenn wir das Leid anderer mindern helfen (auch wenn dies nicht unsere Triebfeder sein sollte!). Es gibt aber noch einen weiteren Effekt: Jeder von uns kann sich mit Sicherheit an eine Person in der Kindheit und Jugend erinnern, die ihm viel gegeben hat, der er viel zu verdanken hat – die Eltern, ein Großvater, ein Lehrer, ein enger Freund, ein Arzt… jemand, der uns beigestanden hat, als wir diesen Beistand bitter nötig hatten. Diese Güte, die wir erfahren haben, hat etwas in unserem Herzen hinterlassen – dieses Gefühl kann uns motivieren, selbst für andere da zu sein, so wie diese Person für uns da war… Daher gilt: Altruismus ist ansteckend, aber im positiven Sinne!
Autor: Das Redaktionsteam
1. Frey, D., Irle, M. (2002): Theorien der Sozialpsychologie. Band II. Gruppen-, Interaktions- und Lerntheorien, S. 190
2. Ebda., S. 179
3. Goleman, D. (1997): EQ. Emotionale Intelligenz
4. Darley, J. M., Batson, C. D. (1973): From Jerusalem to Jericho: A study of situational and dispositional variables in helping behavior, Journal of Personality and Social Psychology, 17, S. 100-108
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