Alltagsethik

Von ethischen Werten zum ethischen Handeln (Teil 2): Die Methode der Autosuggestion

Vor einiger Zeit haben wir auf dieser Webseite erörtert, wie man seine Gedanken schulen kann: Von ethischen Werten zu ethischem Handeln (Teil 1): Der Prozess der Gedankenschulung. An dieser Stelle soll nun ein zentraler Aspekt der Gedankenschulung vertieft werden, das ist die Fähigkeit zur Selbstbeeinflussung oder Autosuggestion. Die Methode der Autosuggestion wurde von einem französischen Apotheker namens Émile Coué im 19. Jahrhundert entwickelt, als dieser beobachtete, dass die Medikamente, die er seinen Kunden gab, eine höhere Wirkung hatten, wenn er sie mit entsprechend positiven, ermunternden Worten überreichte (1).

Émile_Coué_3Daraus schloss er, dass der Einzelne seine Gesundheit und sein Wohlbefinden steigern könne, indem er sich Suggestionsformeln vorsagt. Übrigens findet diese Erkenntnis auch Einfluss in der modernen Forschung, wenn es um die Verabreichung von Medikamenten geht. Denn in vielen Fällen geht das mit Placebo-Effekten einher, das heißt positiven Veränderungen in Hinblick auf das subjektive Befinden, aber auch auf objektiv messbare körperliche Funktionen, die aufgrund der symbolischen Bedeutung einer therapeutischen Behandlung entstehen. Die Tatsache, dass man dem Arzt vertraut und an eine Therapie glaubt, aktiviert medizinischen Studien zufolge eine Kaskade von biochemischen Vorgängen im Gehirn, die letztlich die kognitive Wahrnehmung eines Symptoms oder sogar der gesamten Erkrankung verändern (2).

Autosuggestion in der medizinischen Forschung

Was der Mensch zu sich sagt, welche Haltung er zu sich hat, was er über sich denkt, hat also eine Wirkung auf ihn. Wenn wir versuchen, auf uns selbst Einfluss auszuüben, wird der Effekt nicht von heute auf morgen zu verzeichnen sein, aber unter bestimmten Bedingungen (die weiter unten ausgeführt werden) kann diese Form der Selbstüberzeugung sehr nutzbringend sein. Die Wirkung der Autosuggestion begrenzt sich dabei nicht nur auf die Gesundheit, wie von dem Apotheker Coué festgestellt und von ihm sehr generell in die Formel „Es geht mir mit jedem Tag in jeder Hinsicht immer besser und besser!“ gegossen. Auch in psychologisch-ethischer Hinsicht kann man die Wirkkraft dieser Methode für sich nutzen – als Mittel, um gegen Charakterschwächen zu kämpfen. Forschungen zeigen, dass diverse Formen der Selbstbeeinflussung tatsächlich zu psychologischen Veränderungen im Gehirn führen, so dass automatisierte Körper- und Gehirnprozesse sowie Gewohnheitshandeln überschrieben werden können (3). Daher haben Suggestion und Autosuggestion die Kraft, auch automatisch ablaufende und instinktive körperliche Reaktionen, die auf einen gewissen Reiz hin folgen, zu durchbrechen – ob es nun Schmerzen oder andere Arten von Beschwerden sind. Damit eignen sich suggestive Methoden hervorragend, um ‚schlechte Gewohnheiten‘ anzugehen.

Die Arbeit am Selbst und wie Autosuggestion sie erleichtert

Die Arbeiten von Coué sind im Laufe der Zeit von Wissenschaftlern und Ärzten aufgenommen und weiterentwickelt worden. So hat etwa der österreichische Arzt Erich Rauch große Erfolge in Rahmen seiner klinischen Behandlungen zu verzeichnen, die er auch in mehreren Büchern dokumentiert (4). Er hat diverse Suggestionen für spezifische Problembereiche entwickelt, sei es in gesundheitlicher Hinsicht (bei Schlafstörungen: Ich schlafe ganz ruhig und fest) oder in psychologischer Hinsicht (bei Nervosität und Anspannung: Ich stehe immer mehr über den Dingen des Alltags). Ebenfalls auf der Grundlage der Gedanken von Coué definiert Harry Brooks die Autosuggestion als den Einfluss der Vorstellungskraft auf das moralische und physische Wesen des Menschen (5). Daraus wird ersichtlich, dass die Methode der Autosuggestion nicht nur bei körperlichen Leiden, sondern auch in der psycho-spirituellen Dimension ein wirkungsvolles Instrument darstellt. Zu diesem zweiteren Aspekt finden sich konkrete Anleitungen in einem Werk, das auf dieser Webseite bereits besprochen wurde: Malak Jan Nemati (Leili Anvar: „Malek Jan Nemati: Das Leben ist nicht kurz, aber unsere Tage sind gezählt.“) hält eine Reihe von Empfehlungen bereit zur Frage, welchen Platz die Autosuggestion konkret im Prozess der Selbstvervollkommnung einnimmt. Als spirituelle Forscherin, die 1906-1993 im iranischen Teil Kurdistans gelebt und gewirkt hat, betrachtet sie die Autosuggestion als eine Art Allheilmittel – weil sie ihrer Aussage nach den Anfang oder Anstoß eines Prozesses begründet. Sie sei notwendig, weil sie wie ein Aufruf zu etwas sei, eine Art Ratschlag, den man sich selbst gibt: „Die Autosuggestion führt zur Tat und die Tat zur Erfahrung – und die Erfahrung führt zur Bestätigung.“ (S. 141). Dieses Zitat macht deutlich, dass die Autosuggestion methodisch nicht isoliert betrachtet werden darf, als rein mentaler Vorgang, der zu einer psychologischen (Schein-)Beruhigung führt. Vielmehr stellt sie den Einstieg in die spirituelle Praxis dar, die für Malak Jan Nemati vornehmlich in der Anwendung von ethischen Prinzipien besteht. Der Gebrauch dieser Methode setzt somit voraus, dass eine tatsächliche Realität hinter dem, was selbstsuggeriert wird, existiert. Ohne diesen Bezug bleibt das Ganze eine mentale Übung, die – in Referenz an das Zitat – nicht zur „Gewissheit“ führen wird. Die Frage, wie stark die Beeinflussung wirkt, hängt außerdem von Faktoren ab wie Vertrauen, Hoffnung, Erwartungen und Überzeugungen (6). Der Betreffende sollte insbesondere von der Wahrheit des Prinzips, das er sich suggeriert, überzeugt sein. Im Frage-Antwort-Teil des Buchs fragt eine Person, wie sie gegen ihre Angst ankämpfen könne – und die Antwort zeigt ganz konkret, wie eine solche Suggestion aussehen könnte:

Wenn sich der spirituelle Student in die Hände Gottes begibt, sollte er sich sagen: Nichts wird dadurch besser oder schlechter, dass ich Angst habe. […] Das Heilmittel für die Angst ist die Hoffnung. Man muss seine Hoffnung in Gott setzen und nicht in Menschen wie Du und ich es sind […] Ich sage mir: „Diese Welt ist vergänglich. Und auch wenn es mir schlecht geht, was macht das schon? Es vergeht.“ Wenn unser Denken in der richtigen Weise geschult wurde, hilft uns das, sowohl im Diesseits als auch im Jenseits. (S. 129-130)

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Für Malak Jan Nemati reiht sich die Autosuggestion in jene Methoden ein, die notwendig sind, um die Arbeit am Selbst erfolgreich durchführen zu können. Ethische Tugenden lassen sich nur entwickeln, wenn unethische Impulse in uns überwunden und gemeistert werden. Diese unethischen und gegen die Menschlichkeit gerichteten Impulse lassen sich unter dem Begriff des Herrschsüchtigen Selbst zusammenfassen, als „alle Formen der Maßlosigkeit, der impulsartigen Triebe oder Leidenschaften“ (S. 153). Autosuggestion ist für Malak Jan Nemati ein geeignetes Mittel, um dieser negativen Seite des Selbst Herr zu werden und auf diese Weise zu innerem Gleichgewicht zu gelangen – unter der folgenden Voraussetzung:

Autosuggestion ist eine hervorragende Sache. Aber sie ist nicht jedem gegeben. Der Mensch muss ein Niveau erreichen, wo die Worte, die er zu sich sagt, Einfluss auf ihn haben. (S. 121)

Autor: Das Redaktionsteam


1. Emile Coué, Die Selbstbemeisterung durch bewusste Autosuggestion, 1997

2. Fabrizio Benedetti et al., The placebo response, 2000, S. 70-72.

3. Aikaterini Fotopoulou, Donald Pfaff, and Martin A. Conway, From the Couch to the Lab: Trends in Psychodynamic Neuroscience, 2012, S. 341.

4. Erich Rauch, Autosuggestion und Heilung. Die innere Selbst-Mithilfe, 7. Auflage, 1995

5. Emile Coué & Harry Brooks, The Method and Practice of Autosuggestion, 2011

6. Fabrizio Benedetti et al., The placebo response, 2000, S. 70-72.

 
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