Bereits zum vierten Mal stand Interessierten die Teilnahme am PhiloBrunch in der gemütlichen Clubatmosphäre des Internationalen Begegnungszentrums der Wissenschaft (IBZ) in München offen.
Mit diesem Format bietet Ethica Rationalis ein Forum für den Gedankenaustausch zwischen Gleichgesinnten – in kleinen Gruppen werden bei einem ausgedehnten Frühstück Fragen zur praktischen Ethik diskutiert.
Erkenne dich selbst!
Der Fokus dieser Veranstaltung lag auf der Selbsterkenntnis, wie die Referentin, Frau Dr. Angela Poech, Professorin an der Hochschule München und Gründungsmitglied von Ethica Rationalis, erklärte. Selbsterkenntnis ist ein Begriff, der aus verschiedenen Disziplinrichtungen betrachtet werden kann – der Philosophie, der Psychologie und der Mystik. Ein Denker, der all diese Blickrichtungen in seinen Lehren vereint, ist Ostad Elahi (1895-1974).
Eine kurze biografische Einführung in das Leben und Werk dieses aus dem Iran stammenden, aber inzwischen auch in Europa weithin bekannten Philosophen machte den Anfang. Ostad Elahi lebte bis zum Alter von 25 Jahren ein zurückgezogenes, kontemplatives Leben, das von strenger spiritueller Disziplin und klassischen religiösen Studien geprägt war. In diesem Abschnitt erwarb er auch seine musikalischen Fähigkeiten – mit neun Jahren war er bereits Meister der „Tanbur“ (siehe dazu der Bericht über die Ausstellung „The Sacred Lute“). Im Jahr 1920 ließ er dieses Leben hinter sich und wendete sich einer Laufbahn als Richter und Staatsanwalt zu – eine radikale Veränderung, mit der er seine ethischen Prinzipien inmitten eines gesellschaftlichen Lebens auf die Probe stellen wollte. Nach seiner Verabschiedung in den Ruhestand schließlich verfasste er mehrere Bücher, die heute den Rang von Standardwerken haben. In dieser Zeit gab er im kleinen privaten Kreis seine Lehren und Erkenntnisse weiter. Eine Auswahl seiner Zitate findet sich in den kürzlich erschienenen „Worten der Wahrheit“ [1].
Modell des Selbst
Nach diesen einführenden Worten wurde ein Ausschnitt aus seinen Schriften zur Selbsterkenntnis ausgewählt und näher vorgestellt: das Modell des Selbst. Die Referentin führte zunächst in die Grundlagen des Strukturmodells von Sigmund Freud ein, der von den drei Instanzen Es, Über-Ich und Ich ausgeht, und beschrieb deren jeweilige Motivationen und Aufgaben im Rahmen der Steuerung des Selbst. Der Medizinprofessor Bahram Elahi, der das Erbe seines Vaters Ostad Elahi verwaltet, habe dieses Freudsche Modell auf der Grundlage der Schriften seines Vaters um mehrere Komponenten erweitert – diese bestimmten letztlich unsere Identität und unser Selbstgefühl. Etwas verkürzt gesagt gibt es in uns zwei Hauptkomponenten mit unterschiedlichen Antrieben:
- Die Himmlische Seele, die mit einem göttlichen Funken versehen ist und zurück zu ihrer Quelle, aus der sie erschaffen wurde, strebt. Sie verfügt über Fähigkeiten wie Vernunft, Reflexion, Unterscheidungsvermögen, Willenskraft, Kreativität, Gewissen u.a.
- Die Irdische Seele, die neben dem Es, wie Freud es beschrieben hat, das Herrschsüchtige Selbst beherbergt, das dann entsteht, wenn die natürlichen oder animalischen Triebkräfte des Es (das dem Lustprinzip folgt) aus dem Gleichgewicht geraten.
Diese Dualität oder Bidimensionalität unseres Wesens sei für die Gegensätzlichkeit und die Widersprüchlichkeit in unserem Denken und Handeln verantwortlich. Ein „wahrer Mensch werden“ bedeute gemäß Ostad Elahi, dem rechten Weg zu folgen, also das Gleichgewicht zwischen diesen Kräften in uns zu finden. Seiner Ansicht nach sollte man versuchen, im Leben stets dem goldenen Mittelweg zu folgen, mit anderen Worten, weder in die eine noch die andere Richtung zu übertreiben. Dieses Prinzip lasse sich auf alle Aspekte des Lebens anwenden, spirituell wie materiell, und wirke sich sogar auf die Länge des Lebens aus. (Ostad Elahi, „Paroles de Vérité“, Zitat 244)
Die Nahrung und die Therapie der Himmlischen Seele, das seien die ethischen Prinzipien. Genauer gesagt: Die praktische Anwendung der ethischen Prinzipien. Diese Idee klang auch an beim Eingangssatz, der den Auftakt des Vortrags bildete: „Erkenne dich selbst!“ Sich selbst erkennen heißt nicht, sich selbst zu beobachten und an diesem Punkt stehen zu bleiben. Nein, die Selbstbeobachtung sollte in Selbsttransformation münden. Selbsterkenntnis ist Ostad Elahi zufolge ein Prozess, der aktives Handeln erfordert und in drei Stufen abläuft:
- Im ersten Schritt müssen wir uns selbst beobachten. – Zum Beispiel stellen wir fest, dass wir zu unseren Verabredungen immer unpünktlich erscheinen.
- Dann folgt die Selbstanalyse. – Warum kommen wir zu spät? Sind wir schlecht organisiert? Nehmen wir uns so wichtig, dass wir gerne andere warten lassen? Haben wir einen Groll auf die Person, die wir warten lassen?
- Nun geht es an die praktische Umsetzung. – Wenn wir Antworten auf die obigen Fragen gefunden haben, können wir effektiver an unserer Unpünktlichkeit arbeiten, also z.B. einen Kalender anlegen, Puffer in unseren Tagesablauf einbauen, Verzeihung üben.
Diese Aussage führte die Referentin zu einem zentralen Aspekt in den Lehren von Ostad Elahi, zur Frage der konkreten Umsetzung der ethischen Prinzipien: Seiner Meinung nach müssten wir keine ethischen oder moralischen Heldentaten vollbringen, vielmehr gehe es darum, im Alltag in kleinen Handlungen schrittweise an der Entwicklung von Tugenden zu arbeiten – Tugenden wie Menschlichkeit, Großzügigkeit, Wohlwollen, Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Mitgefühl usw. Die Entwicklung dieser Tugenden wirke wie eine Befreiung für unser Leben – ein Gedanke, den wir ebenfalls aus der griechischen Philosophie kennen.
Im Anschluss wurde eine Fallstudie aus dem persönlichen Erfahrungsschatz von Ostad Elahi vorgestellt und gemeinsam diskutiert. Dabei kamen unterschiedliche Aspekte zur Sprache, wie etwa die Frage nach den persönlichen Rechten und Pflichten eines jeden, die Anwendbarkeit der Goldenen Regel sowie die Relevanz des kulturellen Kontexts bei der Umsetzung der Ethik.
Für den nächsten PhiloBrunch wurde der Philosoph Dr. Andreas Belwe angekündigt, der den im Vortrag angesprochenen Aspekt der Dualität des Menschen vertiefen wird, indem er Einblicke in die Philosophie von Plato gibt. Wir informieren Sie über unsere Webseite!
[1]. Ostad Elahi, Paroles de Vérité, Albin Michel, 2014
Autor: Redaktionsteam