Bis kurz vor Beginn wurden rote Stühle aus dem angrenzenden Computerraum in den Projektraum U110 getragen – mit dem Titel „Ethik in Extremsituationen“ hatte man wohl einen Nerv getroffen. „Hilfe für junge Straftäter“ versprechen die beiden Projekte, die an diesem Abend vorgestellt wurden und sich großer Resonanz erfreuten. Der Dekan der Fakultät für Betriebswirtschaft, Prof. Dr. Markus Wessler, begrüßte die Besucher – neben externen Gästen waren das vor allem Studierende aus seiner Fakultät sowie aus der ebenfalls am Campus Pasing ansässigen Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften. Es sei schon seit längerem ein gemeinsames Ziel der beiden Fachbereiche, sich stärker zu verzahnen und mit dem KonTEXT Leseraum bzw. der heutigen Veranstaltung sei dies in hervorragender Weise gelungen, freute sich Dr. Wessler.
KonTEXT Leseprojekt für straffällig gewordene Jugendliche
Frau Dr. Caroline Steindorff-Classen, Professorin an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, führte thematisch in das Programm ein. Sie leitet das LeseProjekt KonTEXT , das sie zusammen mit Studierenden für straffällige junge Menschen entwickelt hat. Junge Menschen, die von einem Jugendgericht zur Teilnahme am Leseprojekt KonTEXT verpflichtet wurden, kommen an die Hochschule und lesen gemeinsam mit Studierenden Bücher. Die Texte dienen als Basis für den Austausch über die Erfahrungen der fiktiven Akteure, geben Raum für Selbstreflexion und fördern das gegenseitige Verständnis für die Welt des Gegenübers. Rund 400 Jugendliche werden inzwischen jährlich im Rahmen von KonTEXT auf diese Weise engagiert betreut, was mit mehreren Auszeichnungen in den letzten Jahren gewürdigt wurde. Unlängst gelang KonTEXT im Rahmen von „startsocial“, dem bundesweiten Wettbewerb zur Förderung des ehrenamtlichen sozialen Engagements sogar der Sprung in die Bundesauswahl von 25 Projekten, die im Sommer 2018 im Bundeskanzleramt ausgezeichnet werden (bei 300 Mitbewerbern).
Besonders berührend war, dass die Referentin einen sehr lebendigen Einblick in die Lebensgeschichte eines aktuell inhaftierten Jugendlichen gab, der vor Jahren einmal am KonTEXT Projekt teilgenommen hatte: Er hatte zugestimmt, dass sie aus seinen Briefen Textstellen vor den Zuhörern wiedergeben durfte:
„Ich habe mehrmals denselben Fehler gemacht, getrunken und mich danach geschlagen, verständlich dass da keiner mehr Nachsicht hat, aber was das Gericht nicht sieht, ist, wie man behandelt wird als Krimineller. Abgestempelt! Ja ich habe echt viel Müll angestellt, aber können sich Menschen nicht ändern? Ich sage „Ja“, aber das Umfeld nicht. Wenn man keine Arbeit findet, wegen Vorstrafen, hat man kein Geld, vom Amt bekommt man sowieso nichts, und wenn doch kapiert man den Jargon nicht. Irgendwann fühlt man sich einfach überflüssig. Manche flüchten dann zum Alkohol oder Drogen, andere werden Räuber oder Diebe oder andere nehmen sich das Leben, weil es einfach nichts Wünschenswertes mehr gibt“. Unter anderem für Menschen wie ihn wurde es geschaffen: Das LEONHARD Projekt.
Das LEONHARD Qualifizierungsprogramm für Straftäter mit Unternehmergeist
Im Anschluss daran erzählte Herr Dr. Bernward Jopen die spannende Geschichte der Gründung seines Sozialunternehmens. 2010 beschloss er nach dem Besuch eines ähnlichen Projekts in den USA zusammen mit seiner Tochter das gemeinnützige Unternehmen LEONHARD ins Leben zu rufen: „In 20 Wochen bringen wir den Kursteilnehmern bei, welche Eigenschaften ein Gründer braucht, warum es reizvoll ist, eine eigene Firma zu leiten, und wo Gefahren lauern können. Zudem setzen wir auf ein Verhaltenstraining in gewaltfreier Kommunikation. Auch wenn nur 29 Prozent der Absolventen ein eigenes Unternehmen gründen, lernt der Rest durch unsere Ausbildung, sich als unternehmerisch denkender Angestellter in einem Unternehmen zu profilieren.“
Und die Zahlen sprechen für sich: Von bisher 152 Absolventen wurden nur 13 Prozent rückfällig, 60 Prozent fanden 28 Tage nach ihrer Entlassung mithilfe von ehrenamtlichen Mentoren eine Beschäftigung und 29 Prozent machten sich selbstständig (Stand 9.11.2017). Damit liegen die Absolventen von LEONHARD deutlich über dem Durchschnitt.
KonTEXT Leseraum: Ein Ort der Begegnung
Den feierlichen Abschluss der Veranstaltung übernahm Dr. Angela Poech, Professorin an der Fakultät für Betriebswirtschaft und Vorstandsmitglied von Ethica Rationalis, indem sie offiziell die Umwidmung zum KonTEXT Leseraum bekanntgab. Dank der Unterstützung des Dekans ist der Raum U110 ab sofort täglich ab 17 Uhr für Teilnehmer des KonTEXT Leseprojekts reserviert. So müssen die Gruppen sich nicht mehr in zugigen Ecken oder leerstehenden Hörsälen treffen, sondern in einem Raum, der eine vertraute und gleichzeitig entspannte Atmosphäre bietet. Der U110 ist einer der neu gestalteten Projekträume mit flexibler, moderner Möblierung – er bietet Rückzugsräume für Gruppenarbeit, kann aber genauso gut für Vorträge genutzt werden. Ethica Rationalis sagte zu, auch in Zukunft sowohl das KonTEXT Projekt als auch den KonTEXT Leseraum finanziell zu unterstützen. Ideen für weitere Veranstaltungen in der Zukunft sind willkommen! Schreiben Sie uns: info@ethica-rationalis.org.
Autorinnen: Angela Poech und Caroline Steindorff-Classen