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„Okzident trifft Orient – Die universale Dimension der Ethik am Beispiel zweier wegweisender Frauen“

Die Veranstaltung wurde mit einer kurzen Einführung der Vorstandsvorsitzenden von Ethica Rationalis, Prof. Dr. Angela Poech, eröffnet. Sie definierte zunächst den Begriff ‚universale Ethik’ und zeigte dann drei Dimensionen auf, die für die beiden Frauenpersönlichkeiten relevant sind: In zeitlicher, religiöser und kultureller Hinsicht gibt es Parallelen, wie diese beiden Vorstreiterinnen sich dafür einsetzten, ihr Umfeld zum Besseren zu gestalten. Um die Widerstände zu überwinden, mit denen sie als Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft konfrontiert waren, setzten sie universale Tugenden ein, wie den Glauben an sich selbst und die eigene Botschaft sowie innere Unabhängigkeit und unbeirrtes Festhalten an den eigenen Zielen und Idealen. Aber auch Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein gehören dazu, um die eigenen Begabungen zu entwickeln und anderen zugute kommen zu lassen.

Illustration aus dem Scivias-Codex

Frau Dr. Gosebrink, katholische Theologin, führte anschließend in einer kurzen Biografie in das Leben der Hildegard von Bingen (1098-1179) ein. Sie wurde im Jahre 1098 in eine adelige Familie geboren, was ihr überhaupt erst die Möglichkeit bot, Benediktinerin zu werden – die Klöster waren im Mittelalter die Bildungseinrichtungen der Gesellschaft und bis ins zwölfte Jahrhundert ein Adelsprivileg. Hildegard von Bingen schreibt: „Die Ehefrau verwelkt, die Jungfrau bleibt immer im frischen Grün!“ Das drückt aus, dass sie selbst angesichts des damals üblichen Alltags von Ehefrauen (viele Schwangerschaften, hohe Kindbettsterblichkeit) es als Segen betrachtet, diesen Weg wählen zu können. Sie gründete im Laufe ihres Lebens zwei eigene Klöster und wirkte als Äbtissin und Theologin. Im Alter von 40 Jahren schreibt sie ihr erstes großes Werk, „Scivias“, was so viel heißt wie „Wisse/erkenne die Wege!“. Das Werk rankt sich im Kern um Auslegungen der Bibel („Ich schmeckte Einsicht in den Sinn der Schrift.“), die, so der Anspruch der Autorin, für die Weltkirche relevant seien – unter anderem deshalb, weil es den Verantwortlichen, Bischöfen und Priestern, nicht gelungen sei, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen. Hildegard sieht ihre Funktion also darin, diesen Mangel durch ihre eigene Arbeit auszugleichen.

Im zweiten Teil ihrer Ausführungen ging Frau Dr. Gosebrink auf das Menschenbild der Hildegard von Bingen ein. Sie betonte, dass die Nonne nicht in Begrifflichkeiten, sondern in Bildern denke. Dies wurde besonders anschaulich, als verschiedene Illustrationen zu ihren Werken aufgelegt und interpretiert wurden. Die Rednerin erklärte, dass für Hildegard der Mensch eine Einheit aus Leib, Seele und Sinnen sei, wobei sie entsprechend der christlichen Tradition betont, dass der Mensch nicht nur über fünf Sinne verfüge, sondern über zehn – wenn man die „inneren Sinne“, die Sinne des Herzens, hinzuzählt.

Hildegard sieht den Menschen im Zentrum der Schöpfung. Doch ist dies kein Freibrief, sondern Gabe und Aufgabe. Der Mensch erhält von Gott die sogenannten „virtutes“, die man besser mit „Kräften“ übersetzt denn mit „Tugenden“, die ihm auf seinem Weg helfen sollen, einem Weg, der zu einer allumfassenden Harmonie zwischen Mensch und Kosmos führen solle. Ein Hauptgedanke hierbei ist, dass Gott und Mensch „zusammenwirken“, dass also beide Seiten ihren Teil dazu beitragen, dass der Mensch gut handelt.

Die „Mutter aller Tugendkräfte“ bei Hildegard von Bingen ist die „discretio“, die Unterscheidungsgabe. Von ihr ausgehend kann und soll der Mensch seine Verantwortung in der Welt wahrnehmen. Liebe alleine genügt nicht – erst wenn ich sie mit Unterscheidungsgabe verbinde, kann sie zu einer wahren Liebe werden. Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe bilden insofern ein Dreiklang – das eine schließt das andere nicht aus, aber es gilt, die Mitte zu finden. Mitten in der Welt ist der Mensch berufen, sich zu entscheiden und „Ja“ oder „nein“ zu sagen.

In Hinblick auf die Ethik, also auf das, was der Mensch tun soll, ist die Auffassung der Nonne, dass „Sünde“ weniger damit zu tun hat, dass man Böses tut, sondern vielmehr damit, dass man das Gute unterlässt. Die Referentin weist darauf hin, dass laut Hildegard die beiden Attribute Gottes – Gerechtigkeit und Barmherzigkeit – von Gott als Kräfte auch in den Menschen gelegt wurden, wobei der Mann für die Gerechtigkeit, die Frau für die Barmherzigkeit stünde. Auch wenn dies aus heutiger Sicht als eine klischeehafte Zuschreibung von Geschlechterrollen erschienen mag, so greift Hildegard hier doch einen wesentlichen Grundgedanken auf, den Frau Dr. Gosebrink mit einem Gedanken von Thomas von Aquin unterstreicht: „Eine Ethik, die nur gerecht ist, ist kalt. Und eine Ethik, die nur barmherzig ist, geht unter.“

Im Anschluss referierte Frau Winkler, Vorstandsmitglied von Ethica Rationalis, über Malek Jan Nemati, die am 11. Dezember 1906 in Dscheyhunabad, einem kleinen kurdischen Dorf im Westen des Irans, in eine schwierige Zeit hineingeboren wurde: 1906 gab es im Iran eine konstitutionelle Revolution, in der die alte Herrscher-Dynastie entmachtet wurde, die dort seit 1795 regiert hatte. Es war der Beginn der Modernisierung des Irans nach westlichem Vorbild und die Zeit war geprägt von politischer Instabilität. Erschwerend kamen noch Kriege und Hungersnöte hinzu. Allerdings erlebte Malek Jan eine Kindheit weit weg von diesen weltlichen Dingen. Sie wuchs in einem tief religiösen Umfeld auf, stark beeinflusst von ihrem Vater, der dem mystischen Orden der Ahl-e Haqq angehörte. Er war ein sehr fortschrittlicher Mann, was sich auch darin zeigte, dass er seinen Kindern, ob Mädchen oder Jungen, eine umfassende Ausbildung angedeihen ließ.

Als ihr Vater im Alter von 49 Jahren starb, war Malek Jan erst 14 Jahre alt. Von diesem Moment an übernahm ihr älterer Bruder Nur Ali Elahi, später auch Ostad Elahi genannt, die Verantwortung für die Fortsetzung ihrer Ausbildung. Ostad Elahi ist ein inzwischen auch über den orientalischen Kulturkreis hinaus bekannter Philosoph und Musiker, der von Beruf Richter war, und sich in mehreren Schriften dem Thema der „Quintessenz der Religionen“ gewidmet hat. Der Theologieprofessor James Morrison vom Boston College hat durch die Übersetzung der Elahischen Abhandlung „Knowing the Spirit“ (Marefat ol-Ruh) auch den westlichen Lesern den Zugang zu seinem Gedankengut ermöglicht.

Mit ihrem Bruder verband sie nicht nur eine besondere Zuneigung, er war auch ihr Lehrer. Aus dem, was aus den mündlichen Unterweisungen zu ersehen ist, die Ostad Elahi seiner Schwester gab, wird deutlich, dass sie das, was sie von ihrem Bruder lernte, vollständig verinnerlicht hatte: Seine Theorien und seine praktischen Ratschläge wurden zu einem integralen Bestandteil ihrer Persönlichkeit. Genau wie er hielt sie die Vervollkommnung der Seele für das wichtigste Ziel im Leben eines Menschen. Dabei verfolgte sie einen rationalen Ansatz, der ihrer Meinung nach der Natur des Geistes besser angepasst war. Für die Reifung der Seele sei es am besten, ein aktives Leben inmitten der Gesellschaft zu führen, bei dem man sich fortwährend an Gott erinnern und den anderen Menschen dienen solle.

Frau Winkler wies im Weiteren auf den großen Wissenshunger von Malek Jan Nemati hin: Sie studierte die Heiligen Schriften (Bibel, Avesta und Koran), Philosophie und persische Literatur.

Malek Jan Nemati

Neben Kurdisch sprach sie Persisch und Arabisch, sie besaß Kenntnisse in Mathematik, Literatur, Recht, Theologie, Geografie und Geschichte an und verfolgte täglich die aktuellen Nachrichten aus aller Welt. Man muss sich vorstellen, dass sie diese Studien ungeachtet der Tatsache, dass sie aufgrund einer schweren Augenerkrankung im Alter von 20 Jahren vollständig erblindet war, bis ins hohe Alter absolvierte. Dass sie sich dieses Wissen und diese Fähigkeiten trotz ihres Handicaps aneignete, ist ein Beweis für die große Disziplin und Willenskraft, mit der diese Frau ihre Ziele verfolgte. Auch scheint es, als ob sie dieses schwierige persönliche Schicksal nicht nur annehmen konnte, sondern es sogar als Quelle inneren Reichtums ansah. Durch ihre Blindheit richtete sie den Blick nach innen und fand dort eine andere, eine unendliche Welt. Sie geht sogar noch weiter, wenn sie erklärt, dass sie, wenn sie nicht blind geworden wäre, ihren Weg nicht so konsequent verfolgt hätte. Ihre Blindheit löste sie von der materiellen Welt und öffnete ihr Horizonte, die sie sonst nicht hätte wahrnehmen können.

Die Referentin erklärte, dass Malek Jan sich ihr Leben lang für die Rechte von Frauen und Kindern eingesetzt habe. Dies betrifft u.a. die Gleichbehandlung von Söhnen und Töchtern in Hinblick auf Ernährung, Ausbildung und Erbe. Damit man sich die Willenskraft vor Augen führen kann, die das Durchsetzen dieser für uns selbstverständlich erscheinenden Dinge benötigte, forderte Frau Winkler die Zuhörer auf, einen kurzen Blick auf den soziokulturellen Kontext zu werfen: Es handelte sich um eine patriarchalische Gesellschaft, in der die Frau nicht die geringsten Rechte hatte. Es wurde von einer Frau erwartet, erst dem Vater und später dem Ehemann zu gehorchen. Es war undenkbar, dass eine Frau eine eigene Meinung äußern konnte, geschweige denn Studien nachzugehen. Daraus kann man schließen, welche Charakterstärke nötig war, um Einfluss auf diese rückständige Umgebung auszuüben. Dass sie von den Männern der Region als Autorität anerkannt wurde, kann man sich nur mit dem von ihr ausgehenden Charisma erklären. Dieses Charisma wiederum hat seinen Ursprung in der Schulung ihrer Persönlichkeit, die im Zentrum ihres Lebens stand. Tugenden wie Selbstdisziplin, Friedfertigkeit, Toleranz und Mitgefühl konnte sie anderen empfehlen, weil sie sie selbst umsetzte. Den Weg der Vollkommenheit, den ihr Bruder ausführlich in seinen Werken beschreibt, ist sie selbst gegangen – wobei Vollkommenheit für sie bedeutet, sein Wesen ins Gleichgewicht zu bringen. Die Tatsache, dass sie sich ihr Leben lang dieser inneren Arbeit gewidmet hat, ist die eigentliche Ursache für den Respekt, den ihre Umgebung ihr entgegenbrachte, weswegen sie in ihrem Umfeld als Heilige betrachtet wurde. Dass die Wirkung ihrer Lebensarbeit auch nachhaltig Spuren hinterließ, zeigt sich auch darin, dass diese Frau heute in der Wissenschaft international Beachtung erfährt, z.B. im Rahmen des 2006 stattgefundenen Symposions der Asia Society („A Life Unseen: A Legacy of One Woman’s Courage, Humanity and Insight“, Details siehe www.malakjan.com).

Quellen:

Dr. Gosebrink, Hildegard: „Hildegard von Bingen begegnen.“

PH.D. Anvar, Leili: „Malek Jan Nemati. La vie n’est pas courte, mais le temps est compté.

www.malakjan.com, www.saintjani.org, www.ostadelahi.de, www.hadjnemat.com