AlltagsethikRezensionen

Glück ist eine Gleichung mit 7 von Holly Goldberg Sloan

Das wirklich Wunderbare an Willow ist,
dass sie in jedem ein kleines Wunder bewirkt.

Dieses Buch musste ich zweimal lesen – einmal schnell, denn es hält den Leser in Atem, und einmal langsam, um Stellen wie diese meditativ genießen zu können (S. 17):

Meine zweite Leidenschaft: Pflanzen. … Bevor Ihr mich für verrückt haltet …, schaut nach draußen. Jetzt gleich. Ich hoffe, dass ihr nicht gerade auf einen Parkplatz oder eine Häuserwand blickt. Ich stelle mir vor, ihr seht einen hohen Baum mit zarten Blättern. Euer Blick fällt auf das sich wiegende Gras eines großen Felds. Irgendwo in der Ferne schiebt sich Unkraut durch die Ritzen im Bürgersteig. Wir sind umstellt. Ich bitte euch, auf eine neue Art darauf zu achten und das alles als Lebendig zu betrachten. Lebendig mit einem großen L.

Das junge Mädchen Willow Chance ist ein Genie. Sie beschäftigt sich am liebsten mit Botanik (Ihr Garten ist ihr Allerheiligstes) und Medizin (sie diagnostiziert bei dem Taxifahrer Jairo ein potentiell kanzerogenes Muttermal). Weswegen sie ein bisschen verloren ist in der Welt. Wer diese Empfindung kennt, aus seiner Kindheit oder Jugend, der weiß gleich, wie sie sich fühlen muss, mit ihrem inneren Reichtum, der zugleich verhindert, dass sie sich integriert in die Welt der Gleichaltrigen. Nichtsdestotrotz findet sie eine Freundin, die zwei Jahre ältere vietnamesische Mai (S. 60), die sie mit den folgenden Worten beschreibt:

Was immer sie tat, tat sie mit Entschlossenheit und Umsicht und diese Eigenschaft machte sie für andere anziehend.

Willow muss etwas durchleben, was, wie sie selbst feststellt, von aller Wahrscheinlichkeit her absolut unwahrscheinlich ist: Sie verliert zweimal ihre Eltern. Als Kind ihre leiblichen Eltern und im Alter von zwölf Jahren ihre Adoptiveltern, die beide bei einem Unfall ums Leben kommen. Keine Verwandten, keine Freunde, niemand, der sie bei sich aufnehmen könnte. Nur das schreckliche Jamison-Kinderzentrum. Einzig Mai ist da, das aber mit großer Stärke und Präsenz. Sie sorgt dafür, dass Willow aufgefangen wird in ihrer Apathie, die sich nach dem Verlust der Eltern befällt. Sie sorgt dafür, dass sie vor dem Jamison-Kinderzentrum bewahrt wird. Wobei die Mutter von Mai, Pattie Nguyen, nicht unerwähnt bleiben darf, denn sie verspricht Willow (S. 141):

Ich helfe dir, einen guten Platz für dich zu finden. Ich lasse nicht zu, dass sie dich holen, bevor wir den haben. Ich gebe dir mein Wort. Du bleibst hier, bis wir eine Lösung gefunden haben.

„Hier“, das muss man erklären, ist eine Garage, in der Pattie mit ihre Tochter Mai und ihrem Sohn Chang-Ha hinter dem Nagelstudio, das sie führt, lebt – und in der sie tatsächlich ein weiteres Kind, das nicht das ihre ist und das sie gerade kennengelernt hat, aufnimmt. Es gibt eine Andeutung, dass Pattie ein ähnliches Schicksal erlitten haben muss wie Willow, was ihr offensichtlich ein erstaunliches Maß an Empathie und Selbstaufopferung verleiht (S. 104):

Ich habe diese Frau noch nie gesehen. Aber ihre Arme halten mich. Ganz fest. Diese Frau ist so stark, dass man erst denkt, ihre Umarmung würde einem die Luft nehmen. Aber stattdessen füllen sich meine Lungen zum ersten Mal, seit ich weiß, was geschehen ist, wieder mit Atem.

Um nicht zu viel zu verraten, soll der Ausgang der Geschichte dem Leser auf seiner eigenen Entdeckungsreise vorbehalten werden – denn es gibt eine Lösung, genau, wie Pattie es versprochen hat. Bestechend sind nicht nur die Figuren, die aus vollendeter Menschlichkeit heraus agieren, bestechend sind auch die sprachlichen Gebäude, die die Autorin schafft und die von Wieland Freund hervorragend ins Deutsche übertragen wurden. Im Wesentlichen ist es ein gedanklicher Stil, voller unvermuteter Bilder und Denkschleifen, der aber gerade dadurch eine fast unheimliche Nähe zu den handelnden Personen schafft. In all dem, was Menschen, ja sogar Tiere und Pflanzen tun, wie sie sind und wie sie sich begegnen, ist eine Art Licht, eine helle Zuversicht, die Mut verleiht und Tatkraft, auch dann, wenn das Leben in tiefste Finsternis getaucht scheint (S. 299):

Ich gehe zurück zur Treppe, und wie ich da im Licht der Wintersonne sitze, finden zwei kleine Vögel ihren Weg zu den Heckenkirschen, die direkt neben dem Bambus gepflanzt sind. Sie reden mit mir, nicht mit Worten, sondern durch ihre Anwesenheit. Sie sagen mir, dass das Leben weitergeht.

Lesen Sie dieses Buch und es lässt Sie heiter zurück. Lesen Sie es zweimal: einmal schnell, um die Geschichte dieses Mädchens in sich zu tragen und darüber nachzusinnen, und einmal langsam, um in dieser vielfältigen Schönheit der Worte die tiefe Sinnhaftigkeit des Lebens erfahren zu können.

Autorin: Evelyn Bernhard