Alltagsethik

Die Goldene Regel aus dem Blickwinkel der Philosophie: Zu Schopenhauers Mitleidsethik

Die Aufgabe der Philosophie ist nichts Geringeres als die Welt zu erklären. Dass dies eine bis dato unvollendete Herkulesaufgabe gewesen ist – und sich mit ziemlicher Sicherheit daran auch in Zukunft nichts ändern wird – scheint die vielen Denker und Philosophen bis heute jedenfalls nicht davon abzuhalten, sich mit den Grundfragen der Menschheit zu beschäftigen. „Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält (…)“ (1) scheint das erklärte Ziel der „traurigen Wissenschaft“ zu sein. Dass sich am erklärten Ziel viele Philosophen versucht haben, beweisen die vielen Meter an Regalen gefüllt mit Philosophiebüchern und -texten in jeder größeren Bibliothek. Das viele Nachdenken führte mitunter zu sehr sonderbaren Ansichten und Empfehlungen einiger Philosophen, so sei an das Beispiel der Kyniker und insbesondere Diogenes von Sinope, welcher in einer Tonne hausend, Alexander dem Großen einst begegnete, erinnert. Nichtsdestotrotz haben sich im Laufe der Philosophiegeschichte sehr weitreichende Zusammenhänge und vielfältige Antworten auf die Frage, was die Welt nun im Innersten zusammenhält, ergeben.

Die Welt als Wille und Vorstellung 

Einer, dem die Philosophie in diesem Zusammenhang viel zu verdanken hat und der gleichzeitig von sich selbst überzeugt war, auf diesem Gebiet großes geleistet zu haben, war der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860). Was ist auch schon von jemandem zu erwarten, der von sich dereinst sagte: „Das Leben ist eine missliche Sache: ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken“. Und dies hat er auch zu vielfältigen philosophischen Themen getan, unter anderem auch zum Thema Ethik. Die Frage nach dem „Was soll ich tun“ bewegt viele Menschen. Ist doch gerade diese Frage im alltäglichen Leben von Menschen besonderes drängend. Schopenhauer beschreibt in seiner Ethik eine Mitleidsethik, in der der Fokus weniger auf Rationalität und mehr auf Empathie liegt. Besondere Aufmerksamkeit kommt dem Umstand des Erkennens des Eigenen im Anderen zu. Was meint der Danziger Kaufmannssohn aber nun damit? Schopenhauers Hauptwerk, das er im Alter von 30 Jahren vollendete, welches er jedoch zeitlebens ergänzte und erweiterte, lautet „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Insbesondere die Ausführungen zum Willen zählen zu Schopenhauers besonderen Leistungen. Den Willen sieht Schopenhauer in allen Dingen wirken. Dabei handelt es sich nicht um einen bewussten auf ein Ziel gerichteten Willen, sondern um eine blinde, egoistische Urkraft. In diesem Zusammenhang führt er aus: „Jeder Blick auf die Welt, welche zu erklären die Aufgabe des Philosophen ist, bestätigt und bezeugt, dass Wille zum Leben, weit entfernt, eine beliebige Hypothese oder gar ein leeres Wort zu sein, der allein wahre Ausdruck ihres innersten Wesens ist. Alles drängt und treibt zum Dasein, womöglich zum organischen, d. i. zum Leben, und danach zur möglichsten Steigerung desselben.“ (2) 

Alle Dinge in der Welt, ob Stein, Pflanze, Tier oder Mensch, sind Objektionen dieses Willens. Der Wille bringt sozusagen die Welt aus sich selbst hervor. Diese Zusammenhänge zu erkennen bleibt dem Menschen als vernunftbegabtes Wesen vorbehalten. Da dieser Wille aber nun nach Befriedigung und Vollendung strebt, dies jedoch in der Welt verwehrt bleibt, ist alles Leben auch Leiden. Alle Dinge in der Welt sind Getriebene des Willens, mit der Folge, dass Schmerz, Leid und Verzweiflung das Los der Welt darstellen und es scheinbar keinen Ausweg aus den Zusammenhängen gibt. Wohlgemerkt, dass dies zu erkennen den Menschen als höchste Objektivierung des Willens vorbehalten bleibt. Denn keine Erfüllung ist von Dauer und das Streben wird nie an einem Ziel ein Ende finden. In diesen Teilen ähnelt Schopenhauers Philosophie sehr der buddhistischen Religion. Ähnlich wie im Buddhismus ist der einzige Ausweg, um dem Willen zu entkommen, die Askese und die damit verbundene Verneinung des Willens. Ein anderer Weg führt über die Kunst und insbesondere über die Musik, welche laut Schopenhauer durch reine Anschauung zur kurzzeitigen Verneinung des Willens führt. Naturgemäß bietet das Wissen um einen blinden Willen, der niemals zu befriedigen ist, nicht die besten Aussichten, um positiv erfüllt durch das Leben zu gehen. Nicht umsonst gilt Schopenhauer als Pessimist und steht damit mit seiner Philosophie im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen. Die Frage die sich stellt lautet: Wie entsteht die Überwindung des Egoismus vor dem Hintergrund um das Wissen des blinden Willens?

Mitleidsempfindung als Brücke zum Anderen

Schmerz, Leid und Verzweiflung – bedingt durch die Eigenheit des blinden Willens – bedrängt den Menschen. Dem einzelnen Menschen wird durch Reflektion und Einsicht in die Wirkungszusammenhänge bewusst, dass nicht nur ausschließlich in ihm, sondern in allen anderen Lebewesen derselbe blinde Wille haust und dieser sie ebenso leiden lässt wie ihn. Die Erkenntnis des Eigenen im Anderen – dies ist „Mitleid“. Durch diese Einsicht wird es möglich, die Brücke zu den anderen Menschen zu bauen und den Egoismus aufzuheben. Dem Egoismus gegenüber steht dabei das Mitleid, es bildet einen Counterpart, einen Ausgleich, und in ihrer Verbindung bilden beide Eigenschaften nach Schopenhauer die Grundlage der Moral. Schopenhauer geht sogar in seinen Ausführungen soweit, dass das Wissen um die Zusammenhänge schlussendlich zu Gerechtigkeit und Menschenliebe führt.

„Denn grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner Kasuistik. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig keinen verletzen, keinen beeinträchtigen, keinem wehe tun, vielmehr mit jedem Nachsicht haben, jedem verzeihen, jedem helfen, so viel er vermag, und alle Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen.“ (3) 

Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass Schopenhauer die Tiere in seiner Ethik ausdrücklich miteinschließt. Er besaß zeitlebens einen Pudel, den er nach dem Sanskrit Wort für Welthauch, bzw. Atemseele „Atman“, oder einfach nur Butz nannte. „Mitleid mit den Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, dass man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein.“ (4) 

„Hilf allen, soweit du kannst“

Schopenhauers Blick auf die Ethik lässt sich vereinfacht auf den Nenner bringen: „Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst.“ (5) 

Dabei besteht der Kern der Ethik zum einen aus der Handlung („verletze niemanden“), also der Aufforderung, nicht aktiv (schlecht) zu handeln, sondern egoistische und verletzende Handlungen zu unterlassen – und daraus folgt die Gerechtigkeit. Zum anderen findet sich der Gedanke im zweiten Element: „hilf allen, soweit du kannst“, also die Aufforderung, aktiv für andere einzutreten, aktiv zu handeln, um zu helfen – daraus resultiert schließlich die Menschenliebe.

Schopenhauers Mitleidsethik ist in gewisser Weise eine Abwandlung der in vielen Kulturen und Glaubensrichtungen bekannten Grundformel der praktischen Ethik, die Goldene Regel: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ (siehe hierzu: Die Goldene Regel).

An dieser Stelle muss die Frage lauten: Wie soll ich mich nun in einer alltäglich konkreten Situation ethisch verhalten? Leider gibt es in diesem Zusammenhang nur eine unbefriedigende relativistische Antwort: Es kommt darauf an. Sind damit alle Handlungsempfehlungen der Philosophen und Denkerin Bezug auf Ethik nichtig, da sie sich nur ungenügend auf alltägliche Situationen anwenden lassen? Mitnichten, denn gerade das Auseinandersetzen mit Ethik und insbesondere bei Schopenhauer mit der Rolle des Mitleids sind für das praktische ethische Handeln wichtige Anregungen und Anstöße zum Reflektieren des eigenen Verhaltens im Alltag und der Interaktion mit anderen Menschen.

So geht die Suche nach dem gerechten, vernünftigen und sinnvollen Handeln weiter… Höchstwahrscheinlich wird die Frage nach dem ethischen Handeln niemals gänzlich beantwortet werden können. Dies hält die Philosophen und Philosophie-Interessiertenaber nicht davon ab, über das „Was soll ich tun?“ nachzudenken und auch in Zukunft nach Lösungen für diese Frage zu suchen.

 

Autor: Bernhard Moosburger



1) Johann Wolfgang Goethe; Faust I.

2) Arthur Schopenhauer; Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd.2

3) Arthur Schopenhauer; Die beiden Grundprobleme der Ethik.

4) Arthur Schopenhauer; Die beiden Grundprobleme der Ethik.

5) Arthur Schopenhauer; Die beiden Grundprobleme der Ethik.

 

Bild: (Wikicommons freie Datenbank)