Ist der Mensch von Natur aus moralisch? Auf der Suche nach Autoren, die diese Frage auf empirische Art und Weise beantworten, bin ich bei Dan Ariely fündig geworden. Ariely ist Professor für Psychologie und Verhaltensökonomie an der Duke Universität in USA. Mit seinem Buch The (honest) Truth about Dishonesty (deutsch: Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge. Wie wir andere täuschen – und uns selbst am meisten) hat er diese Frage auf sehr findige Art und Weise beantwortet, indem er Gruppen von Testpersonen in unterschiedlichen Verhaltensexperimenten auf ihre „Ehrlichkeit“ hin teste. Weniger von Interesse sind hierbei die Einzelheiten zum Aufbau der Experimente an sich, die Interessierte in aller Ausführlichkeit in seinem Buch nachlesen können. Spannender sind vielmehr die empirischen Ergebnisse, die seine Untersuchungen zu Tage gefördert haben.
Seine Studien zeigen, dass ehrliches und unehrliches Verhalten auf der Vermischung zweier unterschiedlicher Motivationen beruht. Auf der einen Seite wollen wir von unserer Unehrlichkeit profitieren, auf der anderen Seite wollen wir aber auch in der Lage sein, vor uns selbst als „gute und ehrliche“ Menschen dazustehen. Nun könnte man der Ansicht sein, dass beides nicht geht – weit gefehlt. Wie Ariely eindrucksvoll durch seine Verhaltensexperimente belegt, sind wir durch unsere Fähigkeit mit uns selbst zu argumentieren und uns vor uns selbst zu rechtfertigen (man könnte auch „sich schönreden“ sagen) in der Lage genau dies zu bewerkstelligen.
Arielys Verhaltensexperimente
Ganz besonders spannend sind in diesem Zusammenhang seine Verhaltensexperimente zu den Kräften, die unser ehrliches/unehrliches Verhalten beeinflussen. So hat er in seinen Experimenten (z.B. Lösen von mathematischen Aufgaben) herausgefunden, dass die Menge an erzieltem Gewinn (z.B. finanzielle Belohnung bei richtiger Lösung der Aufgabe) sowie die Wahrscheinlichkeit bei unehrlichem und damit unmoralischem Verhalten erwischt zu werden, keine große Auswirkung darauf hatten, ob wir uns nun tatsächlich ehrlicher verhalten oder nicht.
Großen Einfluss haben hingegen die Fähigkeit das eigene Verhalten zu rechtfertigen sowie unsere Kreativität. Es zeigte sich, dass Personen, die sehr kreativ sind, sich wesentlich leichter tun, zu lügen. Genauso verhielt es sich, wenn die Testpersonen geistig und/oder körperlich erschöpft waren – umso erschöpfter ihr Zustand war, desto leichter gaben sie der (provozierten) Versuchung nach, einen Gewinn durch Schummeln zu realisieren. Man kann daraus ableiten, dass es eine gehörige Portion Willenskraft und damit Kontrolle über unsere inneren Antriebe erfordert, wenn wir uns moralisch verhalten wollen.
Interessant war auch, dass er herausfand, dass sich die Testpersonen von der Umgebung enorm beeinflussen ließen. So gab es Testszenarien, in denen die Teilnehmer sehen konnten, dass ein anderer, vermeintlicher Teilnehmer (der in Wahrheit zum Forscherteam gehörte) ungeniert und offen „betrog“. Dies hatte einen starken Effekt auf die Unehrlichkeit der realen Testteilnehmer, die in dieser Konstellation noch stärker schummelten. Es hat sich in seinen Experimenten auch gezeigt, dass in Testszenarien, in denen nicht die Teilnehmer selbst, sondern andere, dritte Parteien von ihrer Unehrlichkeit profitiert haben, stärker gelogen wurde. Offensichtlich klappte die Rechtfertigung der Unehrlichkeit vor sich selbst dann besonders gut, wenn man sich als „Robin Hood“ fühlen konnte.
Dinge, die die Ehrlichkeit fördern
Was beeinflusste nun aber das Verhalten der Teilnehmer in Richtung Ehrlichkeit? Hier eine kleine Auswahl: Mussten die Teilnehmer vor den Prüfungen beispielsweise Verpflichtungserklärungen unterzeichnen, die sie an ihre Pflicht zur Aufrichtigkeit erinnerten, nahm die Ehrlichkeit enorm zu. Eine ähnliche Wirkung hatte es auch, wenn sich die Teilnehmer während des Tests moralische Prinzipen vergegenwärtigen sollten (wie z.B. die Zehn Gebote). Was Ariely dazu brachte, mit den amerikanischen Steuerbehörden Kontakt aufzunehmen: Er behauptete, dass die Steuererklärungen deutlich wahrheitsgetreuer ausgefüllt würden, wenn die Unterschrift, mit der man sich zur Ehrlichkeit der Angaben verpflichtet, an den Anfang (!) des Formulars gesetzt würde.
Schlussfolgerungen aus den Untersuchungen
Die Ergebnisse von Arielys Untersuchungen zeigen recht deutlich, wie wir Menschen ticken, wenn es um die individuelle Umsetzung moralischer Grundsätze geht. Grundsätzlich sind wir in unserem Tun allesamt moralisch und zwar aus uns selbst heraus: Selbst wenn wir bei unserem unmoralischen/unehrlichen Verhalten überhaupt nicht erwischt werden können, entscheiden wir uns in den meisten Fällen für die Moral – zumindest soweit wie wir vor uns selbst eine gewisse Abweichung von der Moral rechtfertigen können.
Zur Klarstellung sei allerdings erwähnt, dass Ariely bei den Tausenden Verhaltensexperimenten, die er durchgeführt hat, von Zeit zu Zeit immer wieder mal auf absolut aggressive Betrüger gestoßen ist. Diese hatten offensichtlich keine Hemmungen zu betrügen, „was das Zeug hält“, und nicht das geringste Problem ihr extrem unehrliches Verhalten vor sich zu rechtfertigen. Glücklicherweise waren das nur sehr wenige Menschen und so haben sie die Ergebnisse nur minimal beeinflusst – aber es gibt sie.
Abschließend erwähnt seien auch seine überaus aufschlussreichen Untersuchungen zu kulturellen Unterschieden in Zusammenhang mit Unehrlichkeit. So führte er die Verhaltensexperimente nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Israel, China, Italien, Türkei, Kanada und England durch – immer mit demselben Ergebnis: Es gibt keine signifikanten Unterschiede in der Häufigkeit und Menge an feststellbaren Unehrlichkeiten. Zur Klarstellung ist hier ergänzend zu erläutern, dass Arielys Verhaltensexperimente kulturneutral gestaltet sind, sich also außerhalb kultureller Konventionen bewegen (Diebstahl geistigen Eigentums mag in manchen Kulturen eher als Kavaliersdelikt gesehen werden, in anderen als schwere Straftat). Nichtsdestotrotz scheint es so zu sein, dass wir unabhängig von unserer Kultur, in der wir groß geworden sind, nicht mehr oder weniger unehrlich oder ehrlich sind, als Menschen anderer Kulturen – als ob wir einen gemeinsamen moralischen Kompass in uns tragen.
Meines Erachtens sollte sich nicht nur die Wissenschaft, sondern jeder Einzelne der Erforschung dieses moralischen Kompasses annehmen. Warum nicht selbst versuchen, seinen eigenen moralischen Kompass jeden Tag aufs Neue zu eichen? Das eigene Verhalten bewusst hinterfragen, auf seine charakterlichen Ursachen hin untersuchen und daraus Konsequenzen ziehen? Die Studien von Ariely zeigen insbesondere, dass unethisches Verhalten in den kleinen Alltagshandlungen vorkommt: Schulden, die man nicht zurückbezahlt; Einkommen, dass man beim Finanzamt nicht angibt; Spesen, die man abrechnet, obwohl sie nicht angefallen sind… Es erforderte eine gewisse Ehrlichkeit, seinen eigenen kleinen „Betrügereien“ auf die Schliche zu kommen und den Versuch zu unternehmen, sein Verhalten zukünftig ethischer zu gestalten.
Englische Ausgabe: ISBN 978-0-00-747733-3
Deutsche Ausgabe: ISBN 978-3-426-27598-6
Weitere Informationen: http://danariely.com/
Autor: Das Ethica Rationalis Redaktionsteam