Alltagsethik

Das kleine Glück – wie Dankbarkeit unser Leben verändern kann (Teil 2)

Ich bin 42 Jahre alt und habe den Frühling noch nie genossen wie dieses Jahr. Es war mir, als hätte ich all diese Pracht zum ersten Mal gesehen: Das Rosa der Zierkirschen hatte noch nie so geleuchtet, das Grün des Winterweizens erschien mir robuster als je zuvor, Tulpen hatten Farbkombinationen, die mir ganz neu kreiert vorkamen: Tiefes Violett, zartes Vanillegelb und dazwischen Papageientulpen in den kräftigsten Rot- und Orangetönen. Der Rhodondronbusch, den ich Ende Mai beim Spaziergehen in meiner Nachbarschaft entdeckte, schien mir so schön, als hätte ich noch nie zuvor etwas wie diese wunderbare Blütenform und -farbe zu Gesicht bekommen. Meine Erklärung? Ich habe mich der Dankbarkeit in meinem Leben geöffnet.

Dieser Öffnung gingen einige sehr schwere Jahre voraus, eine Zeit voller Belastungen in Beruf und Familie. Von Natur aus optimistisch und voller Energie, musste ich erleben, wie ich an meine Grenzen kam – physisch und mental. Natürlich haderte ich mit meinem Schicksal – vor allem, weil ein Schlag dem anderen zu folgen schien – und ich empfand es ungerecht, dass es ausgerechnet mich so hart erwischt hatte. Dann las ich in einem Blog eine Einladung zur Umfrage: „Haben Sie zur Zeit mit echten Schwierigkeiten in Ihrem Leben zu kämpfen?“ Ich antwortete, schon allein, weil ich es als tröstlich empfand, dass sich jemand für mein Glück oder Unglück interessierte. Dann sah ich das Ergebnis all derer, die sich bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls beteiligt hatten: Ungefähr 2/3 der Teilnehmer hatten wie ich angekreuzt, dass sie momentan „schwere Zeiten durchleben“. Das hat zunächst einmal alles relativiert: Von all den Menschen da draußen, von denen ich dachte, dass sie glücklich, zufrieden und unbehelligt leben, sind statistisch gesehen die Mehrheit einer ebenso großen Belastung wie ich ausgesetzt!? Von da an war es, als hätte man meine Augen geöffnet: Ich bin nicht alleine und meine Erfahrungen sind nicht außergewöhnlich. Also liegt es an mir, was ich daraus mache. Möglicherweise merke ich deswegen nicht, wie schlecht es den anderen geht, weil sie eine andere, bessere Art haben, mit ihren Problemen umzugehen? Vielleicht sieht man es ihnen nicht an, weil sie sich ihren Frohmut bewahren? Oder vielleicht bin ich gar nicht fähig, ein anderes Leid als mein eigenes wahrzunehmen?

Eine neue Sichtweise: Sei dankbar!

In der Folge „stolperte“ ich scheinbar zufällig über Bücher und Artikel, die mir eine neue Sichtweise eröffneten; es gab Gespräche mit Menschen, die mir zeigten, dass es eine andere Herangehensweise an meine eigenen Erfahrungen gibt; die Hoffnung keimte in mir auf, dass ich etwas in meinem Er-Leben verändern könnte, ohne dass zwingenderweise sich auch meine Lebensumstände sofort verbesserten. Eine langjährige Freundin gab mir einen Tipp, als sie ganz nebenbei sagte: „Sei dankbar! Das ist der Schlüssel zu allem!“

Nachdem ich erstmal nicht viel mit dieser Aussage anzufangen wusste (ich hielt mich zu dem Zeitpunkt nicht für besonders undankbar), ist mir erst viele Wochen später ein Licht aufgegangen: Kann es sein, dass ich selbst dafür verantwortlich bin, dass ich „schwere Zeiten“ durchlebe? Sind diese Zeiten vielleicht objektiv gar nicht so schwer? Ich zwang mich, ehrlich zu sein: Bin ich undankbar? Ein Rat einer psychologisch geschulten Freundin, den ich zunächst eher abstrus fand, war: „Schau‘ Dir einfach an, was Dich undankbar macht – ohne Zensieren, ohne Urteilen.“ Die Tage, die diesem Satz folgten, waren übrigens katastrophal: Ich empfing weitere Hiobsbotschaften und meine Umgebung machte mir das Leben noch schwerer, als es mir eh schon schien. Aber ich hielt mich daran: Jeden Abend schrieb ich auf, was ich heute „erleiden“ musste und ich verurteilte mich nicht dafür, dass ich es als sehr belastend empfand und Gefühle von Frustration und Vergeblichkeit durchlebte. 

Dann geschah etwas Eigenartiges: Nach einigen Tagen fing ich ganz von selbst an, die guten Dinge genauso wahrzunehmen wie die schlechten Dinge. Beispiel: An einem Tag erzählte mir meine Mutter, wie schlecht es ihr gesundheitlich ginge, was mich sehr belastete, weil ich nichts tun konnte, damit sich ihr Zustand besserte. Ich war also traurig. Am selben Tag habe ich ein aufrichtiges Kompliment eines Kollegen bekommen. Das hat mich fröhlich gestimmt, vor allem, weil mir gar nicht klar war, dass der Kollege diesen Zug an mir überhaupt bemerkt hatte. Die Sonne geht unter, aber sie geht auch wieder auf! Und so fing ich an, Tag für Tag die positiven Ereignisse festzuhalten.

Wir sind die Konstrukteure unserer Wirklichkeit

Ich erkannte, dass positive Ereignisse meine Stimmung beeinflussen können, und dass ich selbst in der Hand habe, worauf ich meine Konzentration richte, was also am Ende einen guten oder schlechten Tag ausmacht. In einem kleinen Büchlein las ich folgenden Absatz:

Es reicht nicht, die Augen zu öffnen, um die Dinge sehen zu können. Nicht nur, dass wir das, was wir sehen, interpretieren, sondern das Sehen an sich ist bereits von uns selbst konstruiert: Die Wirklichkeit ist das, was wir aus ihr machen, wie wir sie konstruieren, durch die Art, wie wir sie sehen. Stark vereinfacht könnte man also sagen, dass wir zum großen Teil für die Wirklichkeit verantwortlich sind, in der wir leben.(1)

In derselben Zeit bemerkte ich, dass ich die Dinge um mich herum wohlwollender betrachtete als zuvor – das war der Grund, warum das Aufblühen der Natur mich so tief berührt hatte. Der Frühling war wie immer gekommen, aber ich war stärker als zuvor bereit, ihn willkommen zu heißen, in seiner ganzen Kraft und seiner ganzen Zuversicht, die er mit seinem Aufkeimen und Aufblühen verströmt. Ich verwende dieses Beispiel, um zu zeigen, dass sich etwas in mir verändert hatte – denn die Dinge um mich herum waren zunächst unverändert geblieben.

Ich bin der Meister meines Glücks

Wenn ich also selbst der „Konstrukteur meiner Wirklichkeit“ bin – wie kann ich für Dinge dankbar sein, die unangenehm sind und mir Mühsal bereiten? Es dauerte eine Zeitlang, bis ich die Antwort für mich fand: Der Schlüssel liegt darin, dass ich mehr und mehr die Ereignisse in meinem Leben als Teil eines notwendigen Reifungsprozesses sehe. Und die Voraussetzung für diese Sichtweise ist die Hypothese, dass ich ein entwicklungsfähiges Wesen bin, das sich auf einem Weg befindet. Wenn ich auch nicht genau weiß, wo dieser Weg begonnen hat und wo er mich hinführen wird, so verspüre ich doch, dass ich innerlich eine Sehnsucht nach einem Ziel habe, nach einer unverbrüchlichen Wahrheit, nach einer Rückkehr zur Quelle, aus der ich stamme und die meine eigentliche Heimat darstellt. Gesetzt den Fall, ich werde auf diesem Weg geführt, so ergibt jedes Ereignis aus der Sicht dessen, der mich führt, einen Sinn. Ich musste mich also nur diesem Wohlwollen öffnen und war geborgen. Und ich musste meinen Verstand benutzen, um das große Puzzle meines Lebens entschlüsseln zu können. Der Code musste in mir selbst liegen! Ich „stolperte“ wieder über ein Zitat:

Ein Mensch schaut in die Zeit zurück und sieht, sein Unglück war sein Glück.

Eugen Roth

 

Wenn ich den Code knacken wollte, musste ich lernen, vergangene Ereignisse dahingehend zu interpretieren, inwiefern sie zu meiner Weiterentwicklung und zur Reifung meiner Persönlichkeit beigetragen haben. Klingt einfacher, als es ist! Rückblickend geht es wohl jedem so, dass er begreift, warum dies und jenes so und nicht anders gekommen ist. Und jeder hat wohl die Erfahrung gemacht, dass er im Nachhinein froh war, weil er erkannt hat, welchen Wert das Erlebnis für ihn hatte. Aber wie ist es, wenn man mittendrin steckt? Wenn man so gefangen ist von negativen Gefühlen, von Enttäuschung, von Wut und Frustration, dass man die Botschaften nicht entziffern kann? Dann hilft es, so meine Erfahrung, sich zu suggerieren, dass es einen Sinn haben wird – einfach, weil es in der Vergangenheit auch einen Sinn hatte. Ich habe festgestellt, dass ich mich sehr gut beruhigen kann, indem ich mir sage: „Du magst im Moment nicht erkennen, wo hierin das „Beste“ für Dich liegt; aber Du kannst es annehmen, im Glauben, dass es so ist; und wenn der Tag gekommen ist, wirst Du auch in der Lage sein, die Lektion darin zu begreifen.“ Das ist natürlich nur der erste Schritt in Richtung Dankbarkeit… ein wirklich dankbares, gelassenes und innerlich freies Wesen zu werden, dazu gehört mehr als nur ein paar lichte Momente; es ist eine konsequente Arbeit am Selbst. Die entscheidende Erkenntnis für mich war, dass ich meinen inneren Zustand aktiv beeinflussen kann, indem ich für die Dinge dankbar bin, die in meinem Leben positiv sind – auch wenn es naturgemäß viele Dinge gibt, die das Leben schwer machen. Daher trägt diese Serie auch den Titel „Das kleine Glück“ – weil es viele ‚kleine‘ Quellen von Glück gibt, die ich aber nur dann wahrnehmen und als glücklich machend erfahren kann, wenn ich mich dafür öffne: Das Zwitschern der Vögel am Morgen; ein Tag voller Sonnenschein; lachende Kinder, Hand in Hand, auf dem Weg zum Spielplatz; eine Einladung zum Essen bei Freunden; ein spannender Roman; ein Lächeln oder ein liebes Wort… ob wir diese kleinen, schönen Momente wahrnehmen oder nicht, entscheiden wir selbst: Ich bin der Meister meines Glücks.

 

Autorin: Evelyn Bernhard



1. Olivier de Brivezac & Emmanuel Comte, Shifting Perspectives, 2007, S. 31

 

Bildnachweis: Vencav-Fotolia.com, Infinity-Fotolia.com, Maxim_Kazmin-Fotolia.com