Alltagsethik

Das kleine Glück – wie Dankbarkeit unser Leben verändern kann (Teil 1)

Einer meiner besten Freunde ist ein sehr dankbarer und zufriedener Mensch. Dankbar in einer Weise, die mir persönlich unerreichbar scheint. Das liegt daran, dass sich seine Dankbarkeit auf Dinge bezieht, die wohl die meisten von uns als größte Selbstverständlichkeit betrachten – wie morgens mit heißem Wasser duschen zu können –, oder auf Dinge, die die meisten von uns wohl kaum begrüßen würden ­– wie ein gebrochenes Bein (das ihm in einem besonders hektischen Abschnitt seines Lebens viel Ruhe bescherte). Wenn man dankbare und zufriedene Menschen genau beobachtet, stellt man fest, dass ihr positiver innerer Zustand aus dem komplexen Zusammenspiel von mehreren Charaktereigenschaften herrührt.

Hier einige Beobachtungen, die als mögliche Eckpunkte für die Beschreibung der Qualität der Dankbarkeit dienen können: 

  • Solche Menschen scheinen eher Optimisten als Pessimisten zu sein und haben ein gesundes Selbstvertrauen sowie eine Zuversicht bezüglich der Zukunft.
  • Wenn sie sich vergleichen, schauen sie mehr auf die, die weniger haben als die, die mehr haben als sie selbst.
  • In ihrer Art, die Dinge zu beurteilen, haben sie die Fähigkeit entwickelt, selbst negativen Ereignissen noch etwas Positives abgewinnen zu können.
  • Sie sehen das Leben eher als Entwicklungsmöglichkeit denn als Selbstbedienungsladen; sie haben weniger Erwartungen und weniger Anspruchsdenken.
  • Sie zeichnen sich durch eine bejahende Lebenseinstellung aus, die den Genuss als Basis für das persönliche Wohlbefinden sieht, freilich ohne dabei zu übertreiben.
  • Dankbare Menschen haben ein gesundes und ausgeglichenes Wertgefüge: Sie wissen, was wirklich zählt im Leben und auf was man getrost verzichten kann.
  • Sie vertrauen sich mehr an – ob nun sich selbst, ihren Mitmenschen oder einer höheren, wohlwollenden Macht.
  • Daher erleben wir diese Menschen auch als friedfertig und gelassen sowie stets in der Lage, die Nöte anderer zu sehen und darauf zu reagieren.
 

Insgesamt zeugt diese kleine, nicht erschöpfende Aufstellung von der Komplexität, die der Qualität der Dankbarkeit zugrunde liegt. Ein dankbarer Mensch hat somit selbst aktiv dazu beigetragen, dieses Bündel an Eigenschaften in sich zu entwickeln – und im Laufe dieses aktiven Prozesses der Arbeit am Selbst haben sich die positiven Eigenschaften in ihm wechselseitig befruchtet. Es ist infolgedessen schwierig, zu sagen, welche zentrale Eigenschaft am Ursprung steht und welchen Rat man jemandem geben sollte, der zu uns kommt und fragt, wie er denn zufriedener werden kann.

Die richtige Sichtweise entwickeln

Dennoch gibt es eine Stoßrichtung, die als Startpunkt zu empfehlen ist: Die Entwicklung einer richtigen Sichtweise. Dazu ist ein Blick in die Psychologie hilfreich: Die Theorie des sozialen Vergleichs (1)  geht davon aus, dass Menschen sich mit anderen vergleichen, um Informationen über sich selbst zu gewinnen. Dieses Vergleichen dient dazu, uns selbst besser einschätzen zu können und reduziert somit Unsicherheit. In der Regel vergleichen wir uns mit Gleichgestellten, so genannten peer groups (Geschwister, Kollegen usw.), indem wir bestimmte Kriterien auswählen (Prüfungsergebnis oder Zeugnisnoten, Höhe des Gehalts usw.). Daneben ist es auch möglich, dass es zu einem aufwärts- oder abwärtsgerichtetem Vergleich kommt. Nun zeigen Experimente, dass Menschen ihr Wohlbefinden steigern können, wenn ihre Vergleiche abwärts gerichtet sind. Dies wurde unter anderem für alte Menschen nachgewiesen, die sich mit ihrer Gebrechlichkeit auseinandersetzen, für Leistungssituationen, für Zufriedenheit in romantischen Beziehungen oder bei der Bewältigung von Krankheiten (2). Wenn man sich kritisch selbst beobachtet, stellt man allerdings häufig fest, dass man genau zum Gegenteil neigt: Man vergleicht sich mit jenen, die in einer positiveren Situation sind bzw. mehr Vorzüge zu besitzen scheinen als man selbst. Auch weist die Theorie darauf hin, dass es entscheidend sei, in welcher Dimension man einen Vergleich durchführt und daraus sein Urteil bezieht. Möglicherweise ärgere ich mich, weil mein Vorgesetzter einen Dienstwagen fahren darf und ich nicht (Vergleichsebene: materieller Vorzug, Privileg oder Statussymbol). Gleichzeitig blende ich aus, dass mein Chef das Büro täglich gegen 20 Uhr verlässt, während ich um 17 Uhr meine Kinder von der Schule abholen kann (Vergleichsebene: Freizeit oder Familienleben). Wir können aus der Theorie der sozialen Vergleiche folgende Fragen für die innere Arbeit ableiten:

  1. Mit wem vergleiche ich mich? Mit Gleichgestellten oder mit Menschen, die mehr/weniger erreicht haben als ich?
  2. Worin vergleiche ich mich? In Dimensionen, die in meiner Wertehierarchie ganz oben/ganz unten stehen und die ich eigentlich als wichtig/unwichtig für meine Lebenszufriedenheit erachte?

Den Vergleich positiv nutzen

Daraus folgt die Erkenntnis, dass ich meine Lebenszufriedenheit allein dadurch beeinflussen kann, wie ich meine mentalen Vorgänge in Bezug auf das Vergleichen mit anderen gestalte. Wenn wir davon ausgehen, dass wir nicht umhin können, zu vergleichen (weil wir der Theorie zufolge auf die dadurch gewonnenen Informationen angewiesen sind, z.B. was die Einschätzung unseres eigenen Leistungsniveaus anbelangt), dann sollten wir uns genau überlegen, wie wir es tun. Als praktische Ableitung könnte man sich beispielsweise einmal täglich mit folgenden Fragen auseinandersetzen:

  • In welchem Bereich meines Lebens ist es mir insgesamt besser ergangen als anderen?
  • Wo kann ich heute für etwas dankbar sein, was andere möglicherweise nicht haben?
  • Über welche Talente verfüge ich (nicht) im Vergleich zu anderen und was habe ich (im Vergleich zu anderen) investiert, um diese Talente in mir zu entwickeln?

Diese kleinen Übungen können uns helfen, unsere Sichtweise zu ändern. Wir erkennen, dass uns das Schicksal gar nicht so schlecht mitgespielt hat, wie wir dachten, sondern dass wir im Vergleich zu anderen viel Positives erlebt oder viele Vorzüge erhalten haben. Oder auch, dass wir es möglicherweise im ein oder anderen Bereich schlicht versäumt haben, uns anzustrengen oder ernsthaft zu bemühen (was eine fruchtbare Erkenntnis ist, da sie uns je nachdem zum Handeln oder zur Neueinstellung von Prioritäten veranlassen kann).

Das Positive im Negativen suchen

Diese Änderung der Sichtweise lässt sich durch die Fokussierung auf das Positive vertiefen, indem wir folgende Übungen als Ergänzung wählen:

  • Was war heute ein Glücksmoment, ein positives Erlebnis, eine positive Begegnung?
  • Welche Erfahrungen in meinem Leben waren schmerzhaft, aber für meine persönliche Entwicklung hilfreich?

Diese Suche nach dem ‚Positiven im Negativen‘ kann viele Formen annehmen, hier einige Beispiele: Wenn wir an einer chronischen Erkrankung leiden, können wir uns sagen, dass uns das geholfen hat, Willenskraft und Disziplin zu entwickeln und viel über Medizin und Gesundheit zu lernen – womit wir zudem andere unterstützen können, die in einer ähnlichen Situation sind. Wenn wir einen großen Verlust erlitten haben, können wir (mit der Zeit) erkennen, welche Bedeutung wir dem zumessen, was wir verloren haben (entweder wir haben es nicht richtig zu schätzen gewusst oder es war uns gar nicht so wichtig, wie wir dachten – beides ist möglich). 

Wenn wir es am Arbeitsplatz mit Konflikten zu tun haben, können wir versuchen, davon zu profitieren, indem wir Verhaltensweisen erwerben, mit denen sich Konflikte lösen oder mindern lassen. 

Wenn wir es mit einem schwierigen Menschen in unserem Lebensumfeld zu tun haben, dann können wir versuchen, in unserer Persönlichkeit Eigenschaften zu verstärken (wie etwa Toleranz, Verständnis, Empathie), die uns helfen, auch mit schwierigen Mitmenschen gut auszukommen. Wenn uns etwas zustößt, was uns sehr verletzt hat und emotional schwer zu verarbeiten ist, dann werden mit der Zeit erkennen, dass dieses Leid unsere Fähigkeit zum Mitgefühl vertieft hat. Das Gefühl der Dankbarkeit, das sich in uns ausbreitet, wenn wir bei einem dieser Versuche erfolgreich sind, ist etwas anderes als lediglich die Lippen zu einem „danke“ zu formen: Es erhellt unser gesamtes Wesen.

 


1. Leon Festinger, A Theory of Social Comparison Processes, 1954

2.  Hans-Werner Bierhoff, Sozialpsychologie, 2006

Fotonachweis:

© Butch-Fotolia.com

© Magnolia-Fotolia.com

© Edler von Rabenstein-Fotolia.com