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Veranstaltung „PhiloBrunch – Ethik in Extremsituationen“ vom 22. Juli 2017

Bereits zum wiederholten Male stand Interessierten die Teilnahme am PhiloBrunch in der gemütlichen Clubatmosphäre des Internationalen Begegnungszentrums der Wissenschaft (IBZ) in München offen. Mit diesem Format bietet Ethica Rationalis ein Forum für den Gedankenaustausch zwischen Gleichgesinnten – in kleinen Gruppen werden bei einem ausgedehnten Frühstück Fragen zur praktischen Ethik diskutiert.

Der 22. Juli ist in München von Trauer geprägt. Denn vor genau einem Jahr erschütterte ein Amoklauf im Olympia-Einkaufszentrum die Landeshauptstadt. Passend zum Gedenken an dieses Ereignis fand dieser PhiloBrunch zum Thema Trauerbegleitung statt; unser Gast war Martina Münch-Nicolaidis, Gründerin der YoungWings Stiftung und Senatorin der Wirtschaft.

Leid kann am besten bewältigt werden, indem man Hilfe leistet

Anlässlich dieses Jahrestages berichtete Angela Poech, Professorin an der Hochschule München und Vorstandsmitglied von Ethica Rationalis, den Teilnehmern von den Empfindungen, die die Erinnerung an diese Tragödie bei ihr auslöst (Trauer, Beklemmung, Hilflosigkeit). Danach ging sie darauf ein, wie den Opfern geholfen wurde, und welch positiven Gefühle wiederum Anteilnahme und Unterstützung hervorrufen (Optimismus, Dankbarkeit, Mitgefühl). Dabei kam sie zur Erkenntnis, dass „Leid am besten bewältigt werden kann, in dem man Hilfe leistet“.

Genau diese Maxime befolgt Martina Nicolaidis seit über 15 Jahren mit ihrer YoungWings Stiftung für junge Menschen bis 49 Jahre, die den Verlust eines Partners oder Elternteils verarbeiten müssen. Diese Arbeit ist ihre Berufung. Aufgrund mehrerer schwerer Schicksalsschläge musste sie selbst erleben, was der Verlust eines nahestehenden jungen Menschen bedeutet. Daher möchte sie Menschen mit ähnlichen Schicksalsschlägen helfen. Der Verlust ihres Mannes führte dazu, dass die damals 28jährige eine Selbsthilfegruppe gründete, da es bis dato noch keine Gruppe zum Austausch junger verwitweter Menschen gab.

Mit ihrer Organisation hat sie einen Nerv getroffen, denn es gibt zwar Organisationen, die sich auf die akute Krisenintervention spezialisiert haben, keine jedoch, die den Betroffenen längerfristig Unterstützung zukommen lassen. Hinzu kommt, dass es eine Lücke zwischen beiden Maßnahmen gibt, denn es sind mehr junge Menschen von dieser Situation betroffen, als viele vermuten. So gibt es in Deutschland derzeit z.B. 80.000 Voll- und Halbwaisen. Frau Steindorff-Classen, Professorin an der Hochschule München, bestätigte diese Lücke, indem sie von ihrer eigenen Erfahrung berichtete: Sie nahm einen jungen verurteilten Mann in das KonTEXT-Programm auf, der von einem schweren, traumatischen Schicksalsschlag geprägt war, auf, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Hierauf sei sie bzw. ihr Team jedoch nicht spezialisiert. Dennoch nahm sie die Herausforderung an, da es für seine Situation keine geeignete Unterstützung in Deutschland gibt.

Trauerbegleitung bedeutet das Leid anderer auszuhalten

Das Thema Trauerbegleitung berührte die Gäste sehr, und sie nutzten auch die Chance Tipps für den privaten Bereich zu erhalten. Auf die Frage, wie man Trauernden am besten helfen kann, antwortete die Expertin: „Das wichtigste ist, für den anderen da zu sein, immer wieder auf ihn zuzugehen: „Die große Kunst ist, es auszuhalten“ (denn wir fühlen uns hilflos). Es sei schon viel erreicht, wenn man z.B. einfach mal Kaffee macht oder für die betroffene Person eine Woche lang kocht.

Verantwortung durch soziale Arbeit erfordert professionelles Handeln

Zum Thema wurde eine Fallstudie ausgeteilt: Der Kern dieser Studie war, ob man von einem dubiosen Bauunternehmer eine hohe Spende annehmen darf, um damit die Arbeit einer sozialen Einrichtung zu unterstützen. Diese Fallstudie wurde sehr kontrovers diskutiert und es gab diverse Lösungsvorschläge von „Spende annehmen“ über „Abwägen der Alternativen zur Finanzierung der Organisation“, „Überprüfen der Intention des Unternehmers“ bis hin zur klaren „Ablehnung der Spende“. Martina Münch-Nicolaidis erklärte in diesem Zusammenhang, dass „Social Entrepreneurship auch Business ist“ und man an jeder Entscheidung gemessen werde. Daher sei wertkonformes Handeln sehr wichtig („Ich bin mir meiner Werte sehr bewusst“). In diesem Zusammenhang stellte ein Gast die These auf, dass die Annahme dieser Spende sogar dem Missbrauch des betreffenden Vereins (aus der Fallstudie) nahekomme (Imageaufbesserung).

Gesellschaftliche Verantwortung basiert auch auf dem Bauchgefühl des Einzelnen

In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage aufgeworfen, ob und wie Organisationen überhaupt nach einem Fehlverhalten „Reue“ zeigen können. Dabei wurde im Plenum entwickelt, dass aus Unternehmenssicht ein Baustein das Aufbauen und Durchführen von längerfristig wirksamen Compliance-Programmen ist, aber auch die Aufarbeitung der Ursachen des Vergehens. Aus individueller Sicht ging es eher um die Frage, welche Handlungen dem Bedauern folgen – im Sinne einer Wiedergutmachung. Ebenso sei Aufrichtigkeit wichtig und man sollte sich selbst stets fragen: „Was ist für mich selbst tragbar?“. Eine Entscheidung für ein bestimmtes Vorgehen sollte man lieber nicht treffen, „wenn sich der Bauch rührt“, also innerlich Widerspruch anmeldet. Denn nichts sei gefährlicher als die „Trennung von Kopf und Bauch“. Später erklärte Angela Poech, dass das, was wir als „Bauchgefühl“ bezeichnen, in den Neurowissenschaften als autonomes Nervengeflecht nachweisbar ist und am ehesten dem entspricht, was wir als „emotionale Intelligenz“ kennen; aus Sicht der Psychologie wiederum würde man hier von „Intuition“ sprechen, wobei Intuition nichts anderes sei als die Fähigkeit, eine große Summe von (reflektierten) Erfahrungen in Millisekunden auswerten zu können.

Jeder Einzelne kann einen wichtigen Beitrag leisten

Die Gäste waren sehr berührt und begeistert von der Begegnung mit Martina Münch-Nicolaidis. Dies zeigte sich nicht nur darin, dass diese Veranstaltung mehr Teilnehmer als üblich anlockte, sondern auch in dem wertschätzenden Feedback (siehe die Kärtchen der Teilnehmer zur Frage „Was nehme ich mit?“). Von der Offenheit von Marina Nicolaidis waren alle begeistert. Sie beantwortete jede Frage, egal wie privat diese war. Sie ist eine starke Persönlichkeit, und das Wohl ihres Teams steht bei ihr an oberster Stelle. So verliert sie trotz ihres Erfolgs nicht die Basis und tut alles in ihrer Macht Stehende, damit es ihren Mitarbeitern – angestellt und ehrenamtlich tätig – gut geht. Eine Unternehmerin aus dem Kreis der Gäste nahm sich die Impulse besonders zu Herzen und bemerkte, dass sie für ihr Team mehr Verantwortung trage als sie bisher dachte; und sie frage sich, wie sie dieser gerecht werden könne?

Frau Nicolaidis bemerkte abschließend, dass es ihr Freude bereitet habe, „mit so vielen tollen Menschen in einem geschützten Rahmen sprechen zu können“. Besonders positiv waren für sie die weiterführenden Kontakte mit ausgewählten Teilnehmern, die darauf zielen sollen, die erwähnte Lücke zwischen der Krisen- und der Langzeitintervention zu schließen. Alle waren sich einig: der PhiloBrunch hat nicht nur fruchtbare Impulse für das alltägliche Leben gegeben, sondern hilft auch durch die Vernetzung und Zusammenarbeit der Teilnehmer die Welt ein Stückchen besser zu machen.